# taz.de -- Debatte Demokratie in Ägypten: Liberale Untiefen | |
> Viele Liberale in Ägypten machen es sich zu einfach. Sie schimpfen auf | |
> die Islamisten, auf die Armen und über den Verkehr. Und was ist mit der | |
> Demokratie? | |
Bild: Auf dem Weg zum Ende des Ramadan. | |
Die überraschende Entlassung von Feldmarschall Hussein Tantawi, dem | |
Vorsitzenden des Militärrats, durch Präsident Mohammed Mursi, hat zum | |
ersten Mal in der Geschichte Ägyptens eine [1][zivile Kontrolle über das | |
Land möglich gemacht]. Obwohl dies eine gute Nachricht für alle | |
Unterstützer der Demokratie sein müsste, ängstigen sich viele Ägypter vor | |
Mursis Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, dem politischen Arm der | |
Muslimbruderschaft. | |
Sie sind überzeugt, dass auf der langfristigen Agenda der Muslimbrüder | |
–ganz gleich, was sie verkünden – die Anpassung der sozialen und | |
gesetzlichen Strukturen an ihre islamistische Ideologie steht. Vielleicht | |
haben sie recht. | |
Aber ich bin mir mittlerweile sicher, dass eine panische Reaktion deswegen | |
ironischerweise der beste Weg ist, um die Islamisten langfristig zu stärken | |
– und ebenso, dass diese Reaktion der ägyptischen Elite etwas | |
Beunruhigendes über ihr Verhältnis zur Demokratie aussagt. | |
## Panik hilft den Islamisten | |
Um es klar zu sagen: Die Ängste bezüglich der sozialen Vorstellungen der | |
Islamisten – insbesondere was die Novellierung des Familienrechts betrifft | |
– sind meiner Ansicht nach berechtigt. In der postkolonialen muslimischen | |
Welt insgesamt und sogar der postosmanischen Zeit in Ägypten wurde das | |
Familienrecht traditionell den ultrakonservativen Kräften als Spielball | |
überlassen, damit sie zumindest zeitweise im Kampf für ihr langfristiges | |
Ziel Ruhe geben: die vollständige Einführung des Scharia-Strafrechts. | |
Die Kolonialmächte waren natürlich nicht bereit, die Kontrolle über das | |
Strafrecht aufzugeben – aber die Gesetze, die Frauen- und Kinderrechte | |
betrafen, wurden geradezu routiniert geopfert, insbesondere von den | |
britischen Kolonialherren. Diese Dynamik könnte sich auch im heutigen | |
Ägypten wiederholen, wenn die Muslimbrüder zu lange an der Macht bleiben | |
werden – und das heißt, länger als eine vierjährige Legislaturperiode. | |
Bis jetzt gibt es wenig Anzeichen für ein langfristiges islamistisches | |
Programm; die wenigen Anzeichen dafür liefern die Salafisten, die rechts | |
von den Muslimbrüdern stehen. Deshalb muss es das Ziel für die liberalen | |
und revolutionären Kräfte sein, die Entwicklung einer gesellschaftlichen | |
Agenda der Muslimbrüder möglichst einzudämmen und gleichzeitig den | |
Präsidenten bei solchen Themen zu unterstützen, auf die wir uns alle | |
verständigen können. | |
Nur wenige stellen ja infrage, dass die Wahl, die Mursi an die Macht | |
gebracht hat, im Großen und Ganzen fair abgelaufen und deshalb legitim ist, | |
wenn auch viele mit vielen Umständen der Abstimmung unzufrieden sind. | |
Nach einem solchen Vertrauensbeweis sollten alle Unzufriedenen mit dem | |
Mursi-Regime seine Partei nach vier Jahren abwählen. Und für den Fall, dass | |
sie nicht, wie viele fürchten, nach der Niederlage bei einer fairen Wahl | |
die Macht abgeben will, sollte schon jetzt klar sein, dass sich die Ägypter | |
die Straßen zurückerobern werden. | |
## Wirtschaft und Sicherheit | |
Die wichtigsten Themen hierzulande sind heute die Wirtschaftskrise sowie | |
Sicherheits- und Verfassungsfragen. Deshalb überrascht mich auch die | |
dominierende Haltung auf den vielen politischen TV-Kanälen Ägyptens. Um nur | |
ein Beispiel zu nennen: Nur einen Tag, nachdem Mursis neues Kabinett | |
vereidigt wurde – dem sich die revolutionären Kräfte in einigen Fällen | |
Berichten zufolge nicht anschließen wollten – kommentierten die | |
TV-Moderatoren, als würden sie gar nicht in Ägypten leben und als wären sie | |
nicht Teil einer möglichen Lösung. | |
Unbesehen der aktuellen politischen Ereignisse lamentierten sie wie eh und | |
je darüber, dass die legendären Kairoer Verkehrsprobleme noch immer | |
ungelöst sind und auch die Sicherheit noch nicht vollständig | |
wiederhergestellt worden sei. | |
Geradezu symbolisch für die Prioritäten der Ober- und Mittelschicht | |
begannen die TV-Gäste und Interviewpartner über die starke Zunahme von | |
Händlern in der Kairoer Innenstadt zu diskutieren. Die verkaufen ohne | |
Genehmigung alles Mögliche von Plastiksandalen über Kleidung bis hin zu | |
Obst auf den Straßen. Ein Schandfleck der Hauptstadt, so meint die Elite. | |
## Mursi ist anzuerkennen | |
Als ich das Problem mit einigen Freunden diskutierte, schlug ich vor, dass | |
das Problem am besten mit Programmen zur Armutsmilderung und der Schaffung | |
alternativer Verdienstmöglichkeiten angegangen würde, sodass die Händler | |
nicht mehr auf ihren illegalen Verkauf angewiesen seien. Meine Freunde | |
nickten zwar zustimmend, fingen aber bald schon wieder an, die | |
Mursi-Regierung für ihr gesellschaftliches Programm, das zu diesem | |
Zeitpunkt überhaupt nicht existierte, vernichtend zu kritisieren. | |
Ich glaube mittlerweile, dass diese „Rhetorik der Panik“ zwei Zwecken | |
dient. Der erste ist: Man möchte sich nicht damit konfrontieren, dass die | |
liberalen und revolutionären Kräfte die Wahlen verloren und eine Menge | |
Arbeit vor sich haben, wenn sie die nächsten gewinnen wollen. Diese Arbeit | |
beinhaltet, dieselben Massen für sich zu gewinnen, die auch die Liberalen | |
gern abwertend als bloße „Bittsteller für Öl und Brot“ bezeichnen. | |
Der zweite Grund ist – Entschuldigung, dass ich hier spekuliere –, dass | |
viele Bessergestellten bewusst oder unbewusst die Demokratie ablehnen, denn | |
sie könnte die Privilegien mancher Ägypter gefährden. Diese Einstellung ist | |
gefährlich. Die Muslimbruderschaft wird immer machtvoller. Und gleichzeitig | |
stimmen Teile der ägyptischen Elite eine Rhetorik an, die sich außerhalb | |
der Grenzen der demokratischen Institutionen und Prozesse bewegt. An der | |
Anerkennung, dass Mursis Präsidentschaft demokratisch legitimiert ist, | |
führt aber kein demokratischer Weg vorbei. | |
Wenn sie der jetzigen Regierungspartei signalisieren, dass sie nicht mit | |
ihr kooperieren werden, weil sie diese Regierung a priori ablehnen, werden | |
die Muslimbrüder damit legitimiert, solchen Wählern gegenüber keine | |
Rechenschaft ablegen zu müssen – und bekommen damit die Möglichkeit, noch | |
mehr Macht an sich zu ziehen. Und das könnte ihnen genau die Zeit geben, | |
die Gesetze einzuführen, vor denen sich die Liberalen so fürchten. | |
19 Aug 2012 | |
## LINKS | |
[1] /Entmachtung-des-Militaerrats-in-Aegypten/!99504/ | |
## AUTOREN | |
Sarah Eltantawi | |
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