# taz.de -- Vor dem Urteil gegen Anders Behring Breivik: Zeit der Abrechnung | |
> Der Schuldspruch gegen Anders Breivik schließt ein schwarzes Kapitel in | |
> Norwegen, öffnet aber ein ebenso schmerzliches: Die Aufarbeitung | |
> politischer Pannen. | |
Bild: Da lacht der Breivik. Und nach dem Urteil? | |
OSLO taz | Am Freitagmorgen kehrt ein schwer bewachter Anders Breivik auf | |
seinen Platz im Sitzungssaal 250 im Osloer Amtsgericht zurück. Zurück in | |
den Saal, in dem die Schreckensgeschichte von Mord und rechtsextremem | |
Terror in diesem Frühjahr über Wochen ausgebreitet wurde. Alles wurde bis | |
ins Kleinste erörtert: die Bombe, die das norwegische Regierungsviertel | |
zerstörte und acht Passanten in den Tod riss, die Details über das Massaker | |
an den 69 jungen, begeisterten Menschen auf der kleinen Insel Utøya. Das | |
Einzige, was noch fehlt, ist das Urteil. Das wird voraussichtlich am | |
Nachmittag gesprochen. | |
Die entscheidende Frage ist, wie man den Massenmörder bestraft: Ist Breivik | |
schuldfähig, und können ihn die Richter daher ganz „normal“ in ein | |
Gefängnis stecken? Oder halten sie den 33-Jährigen für unzurechnungsfähig | |
und weisen ihn in die Psychiatrie ein? Die Urteilsverkündung beginnt um 10 | |
Uhr. Sie wird Stunden dauern. Die Angehörigen der Opfer sind als Zuhörer | |
anwesend, und das ganze Land kann den Schuldspruch am Fernseher verfolgen. | |
Ein paar hundert Meter vom Gericht entfernt sind im Regierungsviertel noch | |
immer ganze Fensterreihen vernagelt. Die Instandsetzungsarbeiten laufen, es | |
ist wie nach einem Krieg. Gleichzeitig werden jetzt ganz andere Schäden | |
aufgearbeitet. Ein Bericht der öffentlichen Untersuchungskommission hat sie | |
alle zutage gefördert. Auf Hunderten von Seiten dokumentiert er, dass die | |
Notfallbereitschaft nicht funktioniert hat, als Breivik am 22. Juli seine | |
Bluttat verübte. Der Bericht hat eine ganze Reihe von Nachbeben ausgelöst. | |
Das Dossier dürfte noch über Monate Unruhe verbreiten. Möglicherweise gerät | |
auch Ministerpräsident Jens Stoltenberg stärker unter Druck. | |
Im Frühjahr lieferten die Titelseiten der Zeitungen immer wieder Bilder von | |
Breivik, jetzt ist es Stoltenberg, der präsentiert wird. „Das ist | |
ungewöhnlich“, sagt der Zeitungsjunge am Kiosk in der Haupteinkaufsstraße, | |
Karl Johan, „und es ist auch etwas traurig.“ | |
Die heutige Urteilsverkündung soll ein schwarzes Kapitel in der | |
norwegischen Geschichte schließen. Gleichzeitig könnte ein neues, | |
schmerzliches Kapitel aufgeschlagen werden. Die Überschriften der Zeitungen | |
erzählen plötzlich ganz andere Geschichten als die von dem Norwegen, das in | |
der Trauer zusammenhält. | |
## Keine Sicherheitsmaßnahmen | |
Im letzten Sommer ging es um Trost und um Zusammenhalt. Jetzt zeigt der | |
Bericht, dass die Regierung die Einwohner nicht schützen konnte, dass die | |
Polizei versagt hat. Breivik hätte früher gestoppt und der Bombenanschlag | |
im Regierungsviertel verhindert werden können. Selbst einfache | |
Sicherheitsmaßnahmen wie die Absperrung des Regierungsviertels gegen | |
mögliche Bombenfahrzeuge versandeten in der Bürokratie. Jahrelang. Und dann | |
kam Breivik. In vielen Bereichen der norwegischen Gesellschaft hielt man | |
Sicherheitsmaßnahmen schlicht für unnötig. | |
Während die Vorsitzende Richterin Wenche Elizabeth Arntzen am Freitag das | |
Urteil verliest, macht gleichzeitig eine kleine Gruppe von Bauarbeitern mit | |
ihrem Auftrag weiter. Drei Straßenzüge vom Gericht entfernt arbeiten sie | |
daran, das Parlament, das Storting, gegen Terrorangriffe sicherer zu | |
machen. | |
Im Jahr nach Breiviks Bombenattentat ist noch keine der Straßen rund ums | |
Parlament gegen Fahrzeuge, die Sprengstoff beladen sind, gesichert. Jetzt | |
ist zumindest die kleine Auffahrt vor dem Haupteingang des Parlaments an | |
der Reihe. Um Betriebsamkeit zu demonstrieren, hat man ein grellgelbes | |
Warnschild aufgestellt: „Arbeit im Gange“. „Ist ja eigentlich zum Lachen. | |
Nach so langer Zeit“, sagt ein Tourist aus dem Norden. | |
Drinnen in den Parlamentsbüros ist mehr los als im Spätsommer üblich. Die | |
Strategen der Opposition durchkämmen den Untersuchungsbericht genauestens, | |
um herauszufinden, in welchem Ausmaß man Stoltenberg und seine Regierung in | |
Bedrängnis bringen kann. | |
Einer der anerkanntesten politischen Analytiker in Norwegen, der Journalist | |
Aslak Bonde, ist täglich auf den Fluren des Parlaments unterwegs. Der | |
„Veteran“ war über den Bericht sehr überrascht. Alle Fehler, die aufgezei… | |
wurden, kamen wie aus heiterem Himmel – sowohl für die Presse als auch für | |
die Politiker. „So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt Bonde. Wenige Tage | |
nach dem Kommissionsbericht schrieb er in seinem wöchentlichen Beitrag für | |
das Morgenbladet: „Der Ministerpräsident sollte um seine Entlassung | |
bitten.“ | |
Stoltenberg hat offenen Auges Versäumnisse einfach zugelassen. Er hat | |
zugelassen, dass sich die Verantwortlichen für die Bereitschaftsdienste wie | |
Bürokraten aufgeführt haben. Wenn sich eine Unkultur eingenistet hat, muss | |
von der Spitze an aufgeräumt werden. Aslak Bonde glaubt, dass die | |
Enthüllungen im Untersuchungsbericht zu einer so starken Erschütterung | |
führen, dass sie einen Platz in den norwegischen Geschichtsbüchern erhält, | |
direkt neben dem anderen großen Trauma: dass Norwegen auf den letzten | |
Weltkrieg vollkommen unvorbereitet war. | |
## Die Medien treiben Stoltenberg | |
Im letzten Jahr war Jens Stoltenberg beliebter als König Harald, jetzt | |
treiben ihn Opposition und Medien vor sich her. Doch die einfachen Leute | |
auf der Straße mögen so eine Jagd nicht. Sie halten lieber fest an der | |
nationalen Erzählung vom Zusammenhalt in den Tagen nach dem Terrorangriff, | |
als ihnen Stoltenberg Trost und Worte der Hoffnung gab. | |
Gleich mehrere Meinungsumfragen kommen zu dem selben Ergebnis: Eine große | |
Mehrheit von über 70 Prozent will, dass Ministerpräsident Stoltenberg im | |
Amt bleibt. Stattdessen sollte lieber die Presse gehen. „Das liegt auf der | |
Hand“, schrieb der Blogger Anders Waage Nilsen. „Schließlich haben es auch | |
die Journalisten versäumt, kritisch zu fragen, wie es um die Sicherheit im | |
Lande bestellt ist.“ Seine Blogeinträge wurden daraufhin im Internet heftig | |
besprochen. | |
Die Besserwisser und Kommentatoren der Presse sind „keinen Deut“ besser als | |
die Politiker! Solche Worte hört man häufig, wenn die Leute bei einer Tasse | |
Kaffee in den Einkaufszentren sitzen. Diese Einstellung, die tief in der | |
Volksseele verankert ist, kann zu einer Art Sicherheitsnetz für Jens | |
Stoltenberg und seine Regierung werden. Denn sie könnte verhindern, dass | |
die Opposition zu stark zubeißt. | |
In den letzten Tagen haben Stoltenberg, aber auch der Polizeiapparat | |
versucht, Tatkraft zu demonstrieren. Als die sozialdemokratische Führung am | |
Dienstag ihr 125-jähriges Parteijubiläum im Zentrum von Oslo feierte, | |
mussten die Gäste erst an Polizisten mit Maschinenpistolen vorbeigehen, ehe | |
sie zum Fest kamen. | |
Maschinenpistolen in Kombination mit Politik sind etwas Fremdes und Neues | |
in einem Land, wo die Polizei noch unbewaffnet ist. Und es steht in | |
Kontrast zur allerersten Losung, die nach dem von Breivik angerichteten | |
Blutbad verbreitet wurde: „Mehr Offenheit – mehr Demokratie“. Viele, die | |
aus dem näheren Umfeld der Opfer stammen, waren beim großen Jubiläum der | |
Arbeiterpartei dabei. Auch für sie und diejenigen, die Hilfe und | |
Unterstützung leisten, bedeutet der Tag der Urteilsverkündung das Ende | |
einer Etappe. | |
## Meilenstein statt Schlusspunkt | |
Das Urteil ist kein Schlusspunkt. Es ist ein Meilenstein einer Sache, die | |
noch weit in die Zukunft hineinreicht und die beschrieben und besprochen | |
werden muss. „Wir müssen uns immer wieder auf neue, weitere Einzelheiten | |
vorbereiten“, sagt Christin Bjelland. Sie ist die stellvertretende | |
Vorsitzende der Nationalen Hilfsgruppe für die Terroropfer. Mit Telefonaten | |
und Sitzungen hat die Hilfsorganisation sich auf den Tag des | |
Breivik-Urteils vorbereitet. | |
Der Abschluss des Prozesses gegen Breivik symbolisiert, dass es der | |
Gesellschaft gelungen ist, den Urheber von Mord und Terror zu bestrafen. | |
Außerdem haben die Angehörigen und Opfer neue und weitere Antworten | |
erhalten, was auf Utøya passiert ist und wie der Terror geplant wurde. | |
„Aber es wird lange dauern, bis unser Traum wahr wird. Der Traum, dass die | |
Ruhe in den Alltag zurückkehrt“, glaubt Christin Bjelland, und sie sagt | |
weiter: „Viele der Angehörigen werden neue und aufwühlende Phasen | |
durchleben, wenn im Herbst eine Reihe von Entschädigungsklagen eingereicht | |
werden.“ | |
Doch mit größter Spannung fragen sich die vielen norwegischen und | |
ausländischen Presseleute im Amtsgericht in Oslo, ob die Richter Anders | |
Behring Breivik für unzurechnungsfähig erklären oder nicht. | |
Die Zeitung Verdens Gang hat in der letzten Woche eine große Umfrage unter | |
Gerichtspsychiatern und Psychologen durchgeführt. Die Frage: Ist dieser | |
Mann auf jeden Fall zurechnungsfähig genug, um auf normale Art und Weise | |
verurteilt zu werden? 62 Prozent antworteten mit Ja. 15 Prozent stempelten | |
den Täter als zu krank ab für eine gewöhnliche Strafe. | |
Wenn Breivik am späten Nachmittag in einer bewachten Kolonne vom | |
Amtsgericht Oslo wieder abtransportiert wird, dann wird er in die sicherste | |
Einzelhaft des Landes gebracht, die es gibt, gleich außerhalb der | |
Hauptstadt. Die Angehörigen der Opfer sind geteilter Meinung, wie Breivik | |
bestraft werden sollte. Christin Bjelland von der Hilfsgruppe spricht die | |
zentrale Forderung aus: „Zurechnungsfähig oder nicht? Wichtig für uns ist | |
einzig und allein: Dieser Mann soll für immer eingesperrt bleiben. Wir | |
wollen ihn nie wiedersehen oder treffen müssen.“ | |
Übersetzung aus dem Norwegischen: Julia Stöber | |
23 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Per Anders Hoel | |
## TAGS | |
Jens Stoltenberg | |
Norwegen | |
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