# taz.de -- Jahrestag des Massakers von Utøya: Gegen den Schmerz | |
> Vor den Nordischen Botschaften erinnern junge Sozialisten an die Opfer | |
> des Utøya-Massakers. Man dürfe den ideologischen Hintergrund nicht | |
> ausblenden, sagen sie. | |
Bild: Eine Frau legt eine Rose auf die Bilder jener junger Menschen, die vergan… | |
Vor dem Eingang der Nordischen Botschaften liegt ein Teppich aus Bildern: | |
Es sind Schwarz-Weiß-Aufnahmen der meist jungen Menschen, die vor genau | |
einem Jahr auf der norwegischen Insel Utøya durch die Schüsse des | |
Attentäters Anders Behring Breivik ums Leben kamen. Sie hatten sich dort zu | |
einem sozialdemokratischen Jugendlager getroffen. Um an die Ermordeten zu | |
erinnern, hat die SPD am Sonntagnachmittag zu einer Gedenkveranstaltung ins | |
Botschaftsviertel aufgerufen. | |
Über hundert Menschen sind gekommen, hauptsächlich Mitglieder der Jusos und | |
Falken, nicht viel älter als die Opfer selbst. Man kannte einander von | |
gemeinsamen Workshops, denn die AUF, die das Jugendlager auf Utøya | |
organisierte, ist eine Schwesternorganisation der Jusos. Die Berliner | |
Jungsozialisten haben Blumen dabei, einige weinen, als sie die Rosen und | |
Nelken auf den Porträts ihrer norwegischen Genossen ablegen. Immer mehr | |
Blumen, sodass die Gesichter darunter langsam verschwinden. Aus einem | |
Lautsprecher läuft Johnny Cash, das Lied, das er singt, heißt „Hurt“. | |
## „Ein Angriff auf uns alle“ | |
Evan Sedgwick-Yell steht direkt neben dem Lautsprecher. Er streicht sich | |
eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht, atmet tief ein und sagt: „Der | |
Angriff auf die Genossen in Norwegen war ein Angriff auf uns alle, auf die | |
Werte, an die wir glauben.“ Als der 27-Jährige davon erfuhr, war er gerade | |
selbst mit den Falken im Zeltlager im Hessen. Er beschreibt diese | |
Zusammenkünfte als eine Art Gegenwelt, in der sie Kraft und Ideen sammeln | |
für ihre Gesellschaftsentwürfe. Auf die Ereignisse in Norwegen reagierten | |
sie mit Entsetzen. „In den Monaten nach Utøya habe ich dann an vielen | |
Workshops mit Leuten aus Norwegen teilgenommen“, sagt Sedgwick-Yell. Sie | |
hätten lange diskutiert, auch über die Medienberichterstattung über den | |
Attentäter Breivik. „Wie er zum Einzeltäter und Verrückten gemacht worden | |
ist – das war unverantwortlich“, findet Sedgwick-Yell. Der rechtsextreme | |
Hintergrund der Tat dürfe nicht übersehen werden. „Es entpolitisiert dieses | |
Verbrechen. Und das darf nicht sein.“ | |
Für die Norweger waren das Massaker auf Utøya und die ebenfalls von Breivik | |
verursachte Bombenexplosion im Osloer Regierungsviertel das brutalste | |
Verbrechen innerhalb der Landesgrenzen seit dem Zweiten Weltkrieg. 77 | |
Menschen starben insgesamt. „Wie besonnen die norwegische Gesellschaft | |
darauf reagierte, das hat hat mich zutiefst beeindruckt“, sagt Leo | |
Lölhöffel von den Berliner Jusos. Bei der Gedenkveranstaltung hält der | |
23-Jährige dann eine Rede, in der er mit holpernder Stimme den norwegischen | |
Ministerpräsident Jens Stoltenberg zitiert: „Wir werden auf die Gewalt mit | |
noch mehr Demokratie, noch mehr Offenheit antworten.“ Das sei, sagt | |
Lolhöffel, genau die richtige Antwort für eine sozialdemokratische Partei. | |
## Besuch aus Norwegen | |
Stoltenberg sagte diese Sätze zwei Tage nach den Attentaten bei der | |
Trauerfeier für die Opfer im vollbesetzten Osloer Dom. Kurz darauf forderte | |
der Imam der größten muslimischen Gemeinde in Oslo die Menschen auf, das | |
„Land, das schon gut ist, noch besser zu machen“. | |
Es ist dieses Nichteinknickenwollen, auf das die Jusos und Falken bei der | |
Gedenkveranstaltung immer wieder zu sprechen kommen. Wie die Norweger das | |
schafften, wollen sie wissen. „Bald können wir sie direkt fragen“, sagt | |
Lölhöffel. Die norwegischen Genossen von der AUF haben sich bereits für | |
einen Besuch in Berlin angemeldet. | |
22 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Joanna Itzek | |
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