# taz.de -- Montagsinterview mit Rabbiner Rothschild: "Musik geht tief rein" | |
> Walter Rothschild ist Rabbiner, nebenbei Experte für Eisenbahngeschichte, | |
> Jazzer - und Leidtragender der Streitereien in der Berliner jüdischen | |
> Gemeinde. Das reicht für ein intensives Gespräch. | |
Bild: Ein Mann des Wortes: Rabbiner Rothschild in seiner Wohnung. | |
taz: Herr Rothschild, das Judentum hat es nicht so mit der Musik, könnte | |
man denken: Bei orthodoxen Juden ist Instrumentalmusik in der Synagoge | |
verboten. Sie aber machen als Rabbiner Jazz auf der Bühne. Ist das ein | |
Widerspruch? | |
Walter Rothschild: Nein. In der Bibel gibt es sehr viel Musik: König David | |
hatte sein Harfe, die Leviten ihre Chöre, Miriam und Deborah haben je ein | |
Lied gesungen. Musik ist im Judentum sehr wichtig. Die Frage ist, ob man | |
sie in der Liturgie benutzt. Manche Juden sagen, dass man nach der | |
Zerstörung des Tempels in Trauer sei und man deshalb keine Musik in der | |
Synagoge, also dem Tempel-Ersatz, machen soll. | |
Und ja keine Instrumente! | |
Ja, es gab den berühmten Orgelstreit im deutschen Judentum des 19. | |
Jahrhunderts. Da war die Frage: Soll man überhaupt instrumentale Musik in | |
der Synagoge machen – und dann noch mit der Orgel? Das ist doch das, was | |
die Kirchen tun! | |
Ihr Entschluss war: Ich gehe mit den Minyan-Boys auf die Bühne und mache | |
Jazz. | |
Aber außerhalb des Gottesdienstes. In meinen Gemeinden habe ich nur ab und | |
zu mal ein Instrument gehört, mal ein Klavier, mal eine Geige. Einige | |
Instrumente passen besser als andere im Sinne der Akustik und des Timbres. | |
Theologisch ist die Musik also kein Problem? | |
Überhaupt nicht! Viele Komponisten waren Juden, etwa Louis Lewandowski und | |
Israel Mombach. Auch nicht-jüdische Komponisten haben jüdische Themen für | |
die Synagoge komponiert. | |
Oder Ursula Mamlok, die hier gleich nebenan in der Seniorenresidenz wohnt. | |
Ja, und dann gibt es noch die Volksliedtradition vor allem in Israel, rund | |
ums Lagerfeuer. | |
Kann Musik ein Weg der Gotteserkenntnis sein? | |
Musik ist ein irrationaler Einfluss auf den Menschen. Es geht tief rein. | |
Viele Menschen werden bewegt durch Bilder, andere durch Geruch und eben | |
durch Musik. Es hat mit dem innersten Kern des Menschen zu tun, dort, wo | |
man auch die Religion sucht. | |
Hilft Ihnen die Musik bei der Annäherung an Gott? | |
Sie kann. Es gibt Leute, die finden Gott in der Stille, und andere auf dem | |
Marktplatz. Jeder hat einen anderen Zugang. In der Jeschiwa, dem jüdischen | |
Lehrhaus, lernen die Studenten in Paaren, und sie reden und schreien | |
miteinander. | |
Augustinus hat gesagt: „Wer singt, betet doppelt.“ | |
Das kann sein. Aber heute ist es doch oft so, dass wir nur noch die Melodie | |
der gesungenen Gebete kennen, aber nicht mehr den Text. Das kann | |
problematisch sein. Diese Betenden spüren nur die Hälfte dessen, was Gott | |
ist. | |
Ist denn Religion ohne Musik überhaupt denkbar? | |
Denkbar schon, aber ich hätte sie nicht gern. Wir haben Religionen ohne | |
Bilder, manche auch ohne Essen, also asketische Formen. Es gibt | |
buddhistische Mönche, die versuchen, von ein paar Reiskörnern am Tag zu | |
leben. Ich finde das traurig, für mich ist es nichts. Für mich passt nur | |
eine Religion, die auch in dieser Welt Fuß gefasst hat. Aber alles ist | |
möglich! | |
Wie gefällt Ihnen synagogale Musik – hat das nicht meistens was von 19. | |
Jahrhundert? | |
Im 19. Jahrhundert haben bestimmte Komponisten die synagogale Musik | |
revolutioniert – etwa Louis Lewandowski hier in Berlin in der Neuen | |
Synagoge. Heute könnte man sagen, dass wir etwas Neues brauchen. | |
Welche Art von Musik passt besonders gut zum Judentum: Choralmusik, | |
Klassik, Jazz, Hip-Hop? Es gibt einen orthodox-jüdischen HipHop-Sänger. | |
Man kann das nicht beantworten, denn: Was ist das Judentum? Es gibt | |
jüdische Komponisten, die Jazz gemacht haben oder Heavy Metal. Und der | |
Anlass ist wichtig: Hochzeiten erfordern andere Musik als Beerdigungen. | |
Manche sagen, Musik selbst sei etwas Göttliches. | |
Vorsicht: Nicht alle Chöre sind Engelschöre. Ich war auch noch nicht im | |
Himmel. Ich weiß nicht, was die dort spielen. Ich kann gut verstehen, dass | |
immer nur Harfe etwas langweilig werden könnte. Aber wenn man in ein | |
Klavierstück des späten Beethoven oder ein spätes Streichquartett von | |
Schubert tief eindringt, ist man nicht mehr in dieser Welt. | |
Im Christentum gibt es den manchmal ziemlich grausigen Sacropop – existiert | |
so etwas im Judentum auch? | |
Ja, den chassidischen Pop: junge Männer in Israel mit langem Bart und | |
Schläfenlocken und wenig zwischen den Ohren. Mit elektronischen Gitarren. | |
(An seine Tochter Bracha:) Wie heißt der eine noch? Jacob? | |
Bracha Rothschild: Matisyahu. Aber der ist richtig gut. Ist nicht so ein | |
Irrer. | |
Walter Rothschild: Na ja, wie auch immer. Die Stimme der Jugend hat | |
gesprochen. | |
Musik hat ja etwas Leichtes. Überhaupt sehen Sie viele Dinge ja ein wenig | |
leichter, vor allem mit Humor. Hilft es in dieser Berliner Gemeinde, wenn | |
man Humor hat, gerade schwarzen, britischen? | |
Was kann sonst helfen? Man hat ja alles versucht, einschließlich der | |
Kontrolle durch den Senat. Nichts hilft in dieser Gemeinde! Das ist das | |
Problem. Man kann nur lachen. Aber es ist ein lachendes und weinendes Auge. | |
Ich bin mit meiner Familie aus der Gemeinde ausgetreten. | |
Nachdem Sie im Jahr 2000 Ihr Amt als Gemeinderabbiner verloren hatten? | |
Nein, später. Ich hatte nach meinem Rauswurf jahrelang so wenig Geld | |
verdient, dass ich keine Gemeindesteuern zahlen musste. Nachdem ich später | |
zwei Bücher veröffentlicht hatte, bekam ich ein paar saftige Summen – und | |
da verlangte die Gemeinde plötzlich von mir ein paar hundert Euro | |
Gemeindesteuern. Ich wollte nicht zahlen, denn ich durfte in der Gemeinde | |
ja nicht mehr arbeiten. Aber ich wollte auch nicht den Gerichtsvollzieher | |
vor meiner Tür stehen haben. | |
Was haben Sie gemacht? | |
Da habe ich doch gezahlt. Ich bin aber gleich am nächsten Tag zum | |
Standesamt gegangen, um aus der Gemeinde auszutreten. | |
Sollte man als Jude nicht Mitglied in einer Gemeinde sein? | |
Das ist sehr wichtig. Aber ich bin jetzt Mitglied in anderen Gemeinden. | |
Warum gibt es in der Berliner Gemeinde eigentlich immer so viel Streit, | |
anders als etwa in München oder Frankfurt am Main? | |
Da funktioniert es ja auch nicht, aber die Konflikte werden besser | |
gedeckelt. In München gibt es immer noch das Diktatur-Prinzip – wie damals | |
hier bei Heinz Galinski. Sie kennen die jüdische Form der Demokratie? One | |
man, one vote – I am that man, I have that vote. | |
Aber woran liegt es in Berlin? | |
Die Berliner Gemeinde ist mit mehr als 10.000 Mitgliedern einfach zu groß | |
für dieses einfache System. Das ist genau wie die Sowjetunion. Kasachstan | |
oder Kirgistan kann man noch kontrollieren, aber einen ganzen Kontinent | |
nicht – außer man ist wirklich autokratisch. Ossis gegen Wessis, Orthodoxe | |
gegen Liberale, Alteingesessene gegen Zuwanderer! Und dann kommt auch noch | |
Chabad Lubawitsch und ruiniert alles. Diese Organisation ist wie ein | |
Krebsgeschwür. | |
Was haben Sie gegen diese Frömmigkeitsbewegung? | |
Es ist immer die gleiche Masche: Chabad kommt in die Gemeinden, betont, | |
dass sie Stress reduziere – und am Ende sieht man, dass man seine Seele an | |
sie verkauft hat, und das auch noch zu einem schlechten Preis. | |
Was heißt das? | |
Chabad Lubawitsch baut eine eigene, eine Parallelgemeinde auf. Es ist so | |
ähnlich wie die islamischen Parallelgesellschaften. Sie kommen, und nach | |
zehn Jahren stellt die Gemeinde fest: Alle Gemeindemitglieder sind bei | |
denen. Und Chabad ist fundamentalistisch. Sie sind antiaufklärerisch. Sie | |
drehen ganz bewusst den jüdischen Glauben um 200 Jahre zurück. Alles ist | |
verloren, etwa bei der Integration und einer modernen, rationalen | |
Theologie, auch bei den gleichen Rechten von Frauen in der Synagoge. Es | |
geht nur so: „Oi, oi, oi, Wodka, Wodka, Wodka, Messiach, Messiach!“ | |
Aber ist das gefährlich? | |
Das ist sehr attraktiv, aber auch sehr gefährlich. Es ist wie bei den | |
Hardcore-Evangelikalen in den USA. Die verkaufen sich auch immer nett und | |
lächelnd. Immerhin: Gewalttätig sind sie nicht. Jüdische Extremisten sind | |
nur extremistisch gegen andere Juden, nicht gegen Andersgläubige. Israel | |
will nur Israel jüdisch haben, nicht Iran und Syrien. Iran und Syrien aber | |
wollen ganz Israel muslimisch haben – da gibt es eine gewisse Asymmetrie. | |
Gibt es ein spirituelles Vakuum in der Gemeinde? | |
Es gibt einen orthodoxen Gemeinderabbiner, der keinen Respekt genießt. Es | |
gibt keinen echten liberalen Rabbiner, nur einen netten Teilzeit-Rentner. | |
Es fehlt eine echte moralische Stimme für diese Gemeinde. Und dies ist eine | |
Hauptstadt-Gemeinde! Da sollte es auch einen Hauptstadt-Rabbiner geben, | |
jemanden, der wirklich zum Beispiel mit der Bundesregierung reden kann. | |
Wie wäre das konkret? | |
In etwa wie beim Chefrabbiner in England. Jemand, von dem man denkt, er ist | |
wie ein Bischof und kann reden. Und eigentlich brauchen wir fulltime einen | |
Rabbiner für die Nicht-Juden, der Public Relations macht, in Schulen geht, | |
Sachen erklärt. | |
Sie sind jetzt seit 14 Jahren in Berlin. Wie hat sich das jüdische Leben in | |
der Stadt seitdem verändert? | |
Noch mehr Menschen als damals sind frustriert. Ich will nicht alles schwarz | |
malen, aber dunkelgrau. Mit 50 Schatten. | |
Ist das jüdische Leben in der Stadt nicht selbstverständlicher geworden? | |
Es war immer so in der jüdischen Geschichte: Sobald man denkt, dass es | |
normal und ruhig läuft, kommt die nächste Krise. Das war die große Tragödie | |
des Holocaust: Die Juden in Deutschland dachten, sie seien überall | |
angekommen und respektiert – und dann kam die Nazi-Bewegung. Und jetzt mit | |
der Beschneidung: Es passiert aus dem blauen Himmel. Vielleicht ist es ja | |
auch nur eine Sommerloch-Geschichte. Ich habe heute eine E-Mail aus | |
Österreich bekommen: Da findet jemand keinen Arzt mehr, der seinen Sohn | |
beschneiden will. | |
Aber Österreich ist ein anderer Staat. | |
Sicher, aber die Beschneidung ist nun einmal europaweit in der Diskussion. | |
Da denkt man, man sei als Deutscher hier anerkannt, und dann passiert so | |
etwas! Israel marschiert in Gaza ein, und als Jude wird man hier angespuckt | |
auf der Straße. Man lernt, sehr vorsichtig zu sein. Was ist ein Pessimist? | |
Ein Optimist mit Lebenserfahrung. | |
Hat die Beschneidungsdebatte für Sie etwas geändert? | |
Es hat mich noch mehr frustriert. Übrigens: Was ist ein Putzke? Ein nicht | |
beschnittener Putz. Ist ein jiddischer Witz. Putz bedeutet so was wie | |
Idiot. | |
Welche Reaktionen erleben Sie in Ihren Gemeinden? | |
Die Leute sind verärgert. In Deutschland gibt es pro Jahr etwa 100 jüdische | |
Beschneidungen, zwei pro Woche – was soll die ganze Aufregung?! Ich bin 58 | |
Jahre alt und beschnitten. Bisher hat keine Frau geklagt, also wo ist das | |
Problem?! | |
Sie sind aufgrund Ihrer Promotion ein Experte für die Eisenbahn in | |
Palästina nach dem Zweiten Weltkrieg, Sie sind ein Jazzsänger und | |
Liedermacher, ein Schriftsteller und Rabbiner – können Sie sich ein Buch | |
vorstellen, in das all diese Erfahrungen einmal einfließen? | |
Ich würde so gern noch einmal ein Buch mit meinen Kurzgeschichten | |
veröffentlichen. Jeder Schriftsteller hat ja eine Schublade voll mit seinen | |
Manuskripten, aber ich habe drei Schubladen voll. | |
Würden Sie gern eines Tages nur noch als Schriftsteller arbeiten? | |
Es ist immer ein Problem, wenn man das Hobby zu seinem Beruf macht. Ich | |
betreue derzeit acht Gemeinden. Es könnten vielleicht nur fünf oder sechs | |
sein irgendwann. Dann wäre ich ein Teilzeit-Rabbiner und hätte auch mal ein | |
Wochenende frei. | |
Sie könnten dann mehr musizieren. | |
Sehr gern! | |
Wird es eigentlich in Ihren Gemeinden akzeptiert, dass Sie als Jazzsänger | |
arbeiten? | |
Nun, ich bin freiberuflich. Ich bin frei. Freiheit macht Arbeit, wie es | |
nicht steht über diesem Tor. Die Gemeinden, die mich als Rabbiner haben, | |
erwarten, dass ich ein paar Witzchen mache, Verständnis für ihren | |
Lebensstil habe – was immer das heißt: politisch oder sexuell – und nicht | |
nur würdig, mit saurem Gesicht oben neben der Thora stehe. | |
In konservativen Gemeinden fühlen Sie sich unwohl? | |
In solchen Gemeinden habe ich keine Luft, keine Lust, keine Zukunft. Es ist | |
immer wie eine Ehe. Sie wissen: Vor der Hochzeit ist die Liebe einmalig, | |
nach der Hochzeit ist sie ehemalig. Also die, die mich auf Konferenzen | |
aufgefordert haben: Walter, sing us a song, die können mit mir und meiner | |
Band umgehen. Und die anderen – who cares? | |
27 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Philipp Gessler | |
Philipp Gessler | |
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Neue Musik | |
Kirgistan | |
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