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# taz.de -- Kurden in Syrien: In neuer Angst
> Das syrische Regime hat sich aus den kurdischen Gebieten im Norden des
> Landes zurückgezogen. In das Vakuum ist eine PKK-nahe Partei vorgestoßen.
Bild: Mit der umstrittenen Kurdistan-Fahne: Ein Junge in Afrin.
AFRIN taz | Am Straßenrand liegen ausgebrannte Panzer, die einzige
Tankstelle weit und breit ist verwüstet, etliche Häuser sind bloß noch
Ruinen, in andere haben Artilleriegeschosse klaffende Löcher gerissen. Nur
selten kommt einem ein Fahrzeug entgegen.
Das ändert sich schlagartig, wenn man von der Grenzstadt Asas an der
syrisch-türkischen Grenze auf die Landstraße nach Westen in Richtung Afrin
abbiegt. Eine Landschaft tut sich plötzlich auf, so schön wie die Toskana.
Schmucke Häuser schmiegen sich eng an die Hügel. Bauern sind mit ihren
Traktoren unterwegs. Zwischen Olivenbaumplantagen leuchten die gelbroten
Früchte von Granatapfelbäumen. Auf einem Feld ernten Frauen Zwiebeln, auf
einem anderen laden Männer Säcke mit frischen Tabakblättern auf einen
Eselskarren.
Afrin, ein Landkreis im Norden der Provinz von Aleppo, ist eine
mehrheitlich kurdische Region. Das Regime von Baschar al-Assad ist hier wie
in den meisten kurdischen Gebieten entlang der Grenze zur Türkei in den
letzten Monaten abgezogen.
Wenige Kilometer östlich von Afrin, der gleichnamigen Hauptstadt des
Landkreises, gibt es noch eine Militärbasis, wo rund 400 Soldaten
stationiert sein sollen. Doch Angriffe von dieser Seite müssen die
syrischen Kurden derzeit nicht befürchten. Zum ersten Mal in ihrer
wechselvollen Geschichte stehen sie vor der Chance, ihre lang ersehnte
Autonomie zu verwirklichen. Doch der Schein der friedlichen, ländlichen
Idylle von Afrin trügt.
## Sie wollen demonstrieren
Comerd Hamdosh ist ein Aktivist der ersten Stunde. Schon als er 16 Jahre
alt war, hat er gegen das Assad-Regime demonstriert. „Die Soldaten haben
auf uns geschossen“, sagt Hamdosh. „Ein Freund von mir wurde getötet.“ M…
neunzehn gründete er die erste kurdische Menschenrechtsorganisation in
Afrin. „Ich habe versucht, Prozesse gegen Regimegegner zu beobachten, und
wurde dafür von der Polizei gejagt.“
Als im letzten Jahr die syrische Revolution begann, organisierte er die
erste Demonstration in Afrin. Mehrere tausend seien damals dem Aufruf
gefolgt, sagt er. Wieder gab es Schüsse, wieder wurde er gejagt. Comerd
ließ sich nicht einschüchtern. „Die nächsten Demonstrationen waren zwar
kleiner, aber wir haben nicht aufgegeben.“
Eineinhalb Jahre später, und ausgerechnet jetzt, da das Regime bald ganz
Vergangenheit sein könnte, hat der mittlerweile 22-Jährige Angst. „Vor dem
Regime habe ich mich nie so gefürchtet wie jetzt“, sagt Hamdosh. „Ich
fürchte niemanden, aber vor der PKK habe ich Angst.“
## Kurdistanfahnen überall
Die PKK, die türkisch-kurdische Arbeiterpartei Kurdistans, gibt es in Afrin
offiziell nicht. Das Sagen hat hier die Parti Yekiti Demokrat (Partei der
Demokratischen Union – PYD). Seit dem Rückzug des Regimes regiert in den
kurdischen Gebieten eine sogenannte Hochkommission, der neben der PYD auch
die im Kurdischen Nationalrat vereinten 16 Parteien angehören, die eher der
Regierung des kurdischen Teilstaats im Nordirak nahestehen. Zumindest in
Afrin ist das reine Theorie.
Auf dem Sockel eines zerstörten Assad-Monuments am Ortseingang ist jetzt
ein riesiges Gemälde mit fünf syrischen Kurden angebracht, die im Krieg der
PKK gegen die Türkei ums Leben kamen. Auf den öffentlichen Gebäuden wehen
die grün-rot-gelben Kurdistanfahnen der PKK.
Obwohl die PYD ihre Eigenständigkeit betont, macht sie aus ihrer Nähe zur
PKK kein Geheimnis. „Der Sieg von Westkurdistan ist ein Sieg des
politischen Weges unseres Führers Apo“, dröhnt Asia Abdulla. Die
Kovorsitzende ist nach Afrin gekommen, um der Öffentlichkeit die Politik
ihrer Partei zu erklären.
Rund fünfhundert Frauen sitzen auf weißen Plastikstühlen auf einer Straße,
um der Frau in schwarzer Hose, Karohemd und mit langem Pferdeschwanz zu
lauschen. Hinter ihr hängt ein riesiges Bild vom inhaftierten PKK-Chef
Abdullah Öcalan (Apo). Bis 1998 hatte das syrische Regime die PKK in ihrem
Kampf gegen die Türkei unterstützt.
In der Türkei heißt es, Assad habe – sozusagen als Rache für die türkische
Unterstützung der Rebellen – der PYD und damit der PKK das Feld überlassen.
Angeblich soll es ein geheimes Abkommen zwischen Assad und der PYD geben.
Abdulla bestreitet das. „Es gibt keine Vereinbarung mit dem Regime“, sagt
Abdulla im Gespräch. „Weder das Regime noch die Opposition haben die Kurden
anerkannt. Deshalb stehen wir auf keiner Seite. Wir verfolgen eine
unabhängige Politik.“ Ihre Partei habe das Regime bekämpft, in den letzten
eineinhalb Jahren jedoch alles getan, um ein Blutvergießen in den
kurdischen Gebieten zu verhindern.
Tatsächlich könnte es auch andere Gründe für den Rückzug des Assad-Regimes
geben. Es benötigt die Truppen in anderen Landesteilen, und womöglich will
Assad die Brücken zu den Kurden, die rund 10 Prozent der Bevölkerung
bilden, nicht ganz abreißen. Zudem spielt ihm die Spaltung der syrischen
Kurden in die Hand. Denn die PYD setzt derzeit alles daran, ihre Macht zu
zementieren. Ihre Anhängerschaft ist zweifelsohne groß. Tausende syrische
Kurden, von denen viele Verwandtschaft in der Türkei haben, kämpften
aufseiten der PKK. Mindestens 3.000 wurden getötet. Mit teils brutaler
Gewalt versucht die PYD heute jedoch, Andersdenkende mundtot zu machen.
## Es gibt Schlägertrupps
„Bis heute können wir unsere Meinung nicht frei äußern“, sagt der Student
Sipan Ahmed. Wie viele Aktivisten steht er hinter der syrischen Revolution
– und möchte das auch öffentlich zeigen. „In Aleppo sterben Menschen, weil
sie vom Regime bombardiert werden“, sagt der Ingenieurstudent.
In der rund sechzig Kilometer entfernten Wirtschaftsmetropole tobt ein
erbitterter Krieg. Im Kampf gegen die Rebellen, die Teile der Stadt unter
ihre Kontrolle gebracht haben, setzt die Armee seit Wochen schwere
Artillerie, Helikopter und auch Kampfflugzeuge ein. „Dazu dürfen wir nicht
schweigen. Wir sind doch Teil der Revolution und wollen ein demokratisches
Syrien für alle.“
Die Aktivisten trauen sich heute nicht mehr auf die Straße. Sie berichten,
dass PYD-Schlägertrupps mehrfach Anti-Assad-Demonstrationen angegriffen
hätten. Vertreter anderer Parteien bestätigen dies. Vor zwei Monaten waren
vor dem Krankenhaus der Stadt die offenbar schwer gefolterten Leichen von
drei bekannten PYD-Kritikern aufgetaucht, die nach einer Schießerei von
PYD-Anhängern festgenommen worden waren.
Beim Versuch, eine Verwandte der Familie zu befragen, tauchen vor ihrer
Apotheke im Stadtzentrum plötzlich mehre Männer auf, die in Afrin als
PYD-Sympathisanten bekannt sind. Ein junger Aktivist, der die erste
kurdische Zeitung von Afrin mit herausgegeben hat, wurde nach eigenen
Angaben bedroht. Aus Sorge um seine Familie will er jedoch keine
Einzelheiten nennen.
## Öcalan statt Assad
Dass die PYD ihre Kritiker einschüchtert, sei eine Lüge, sagt Atuf Abdu.
Der 45-jährige Autoersatzteilhändler ist so etwas wie der Bürgermeister von
Afrin. Der örtliche Verwaltungssitz befindet sich noch immer in der Hand
des Regimes. Am Eingang hängt das obligatorische riesige Bildnis von Hafis
al-Assad, dem Vater des heutigen Präsidenten. Drinnen hausen ein Richter
und sieben Polizisten. Im Gegensatz zu den Aktivisten stört das Abdu nicht.
„Wenn Assad erst einmal gestürzt ist, löst sich das Problem von allein“,
sagt er. Er „regiert“ derweil im ehemaligen Kulturzentrum.
Hinter dem wuchtigen Schreibtisch hängt dort statt Assad jetzt ein
Öcalan-Bild. Abdu betont, dass er parteilos sei und sein Amt einer Wahl
verdanke. Frei, demokratisch und ein Vorbild für ganz Syrien nennt er die
Wahl. Tatsächlich nahmen daran jedoch nur PYD-Anhänger teil. Alle anderen
Parteien lehnen Wahlen ab, solange das Regime noch an der Macht ist.
Zahlreiche ihrer Kader haben sich in den kurdischen Nordirak abgesetzt.
Auch er habe Angst, sagt Kameran Hassan von der kurdischen
Fortschrittspartei.
Dabei wollen alle Kurden von Afrin im Grunde genommen das Gleiche: die
Anerkennung als Kurden, Unterricht in eigener Sprache und eine möglichst
große Autonomie. Wie diese aussehen soll, darüber gehen die Vorstellungen
allerdings auseinander. Angesichts des Machtgebarens der PYD fürchten
bereits viele einen kurdisch-kurdischen Krieg.
Für Aktivisten wie Comerd Hamdosh sind die PYD und das Assad-Regime zwei
Seiten einer Medaille, sie wollen eine Demokratie und einen Rechtsstaat
nach westlichem Vorbild. „Für die PYD geht es nur um Apo“, sagt Hamdosh.
„Wenn das die ganze Freiheit sein soll, dann will ich diese Freiheit
nicht.“
14 Sep 2012
## AUTOREN
Inga Rogg
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