# taz.de -- 30 Jahre „geistig-moralische“ Wende: Unser Papa Kohl | |
> Helmut Kohl wird gehasst oder geliebt. Für viele Deutsche ist der | |
> Dauerkanzler bis heute die Projektionsfläche kindlicher Sehnsüchte nach | |
> einer Vaterfigur. | |
Bild: Der „Vater der Einheit“ schaut auf sein Werk: Helmut Kohl 1990 in Erf… | |
Tausende grölten damals mit. „Hannelores Tag ist grau, denn Helmut Kohl | |
schlägt seine Frau. Es macht die Runde in der Koalition. Selbst Rita | |
Süssmuth weiß es schon.“ Und sie sangen auch die zweite Strophe: „Er ist | |
ein Mann genau wie wir. Tief in ihm, da steckt ein Tier.“ | |
Im Jahr 1987 veröffentlichten „Die Ärzte“ das Minialbum „Ab 18“. Die … | |
Lieder handelten von Sex mit einem Schäferhund, von Fesselspielchen, vom | |
Mord an einem Kind. Und von „Helmut K.“ – die Geschichte vom Kanzler, der | |
seine Frau schlägt. Die kalkulierte Provokation funktionierte, auf | |
Konzerten sang das Publikum die Texte, die zum Teil auf den Index landeten, | |
mit. Sie bedienten die Teenagersehnsucht nach ein bisschen Aufmüpfigkeit. | |
Aber worin lag der Reiz, den Kanzler einzureihen ins bewährte | |
Aufregungsrepertoire aus Gewalt, Sex und Tod? | |
Rund um den 30. Jahrestag von Kohls Amtsantritt am 1. Oktober 1982 wallen | |
nun noch einmal Gefühle auf, die wenig bis nichts mit den politischen | |
Entscheidungen des Kanzlers zu tun haben. Der Nato-Doppelbeschluss, gegen | |
den mehr als eine Million Menschen auf die Straße gingen, war eine | |
Erfindung von Kohls SPD-Amtsvorgänger Helmut Schmidt. Seine Losung von der | |
„geistig-moralischen Wende“ blieb vage Ankündigung. | |
Die Wut und die Bewunderung, die bereits in den 80ern allein die Nennung | |
seines Namens auslöste, haben natürlich auch mit seiner Politik zu tun. | |
Aber das Ausmaß der Emotionen sagt viel über jene, die Kohl in Zuneigung | |
oder in Ablehnung verbunden waren. | |
## Symbolischer Übervater | |
In der Geschichte der Bundesrepublik hat kein Politiker, nicht einmal Franz | |
Josef Strauß, die Bevölkerung so ausdauernd in zwei Lager gespalten wie der | |
1,96-Meter-Hüne aus Ludwigshafen. Wurde er zu Beginn seiner Amtszeit noch | |
als provinzielle „Birne“ verhöhnt, schrieb der Spiegel nach der Vereinigung | |
ungläubig von „Kohls Machtmaschine“. Allmählich bürgerten sich die | |
Bezeichnungen „Vater der Einheit“ und „Vater des Euro“ ein. Noch lange … | |
dem Ende seiner 16 Jahre währenden Kanzlerschaft galt er als „Übervater“ | |
der CDU. | |
Im Rückblick aufs „System Kohl“ schien es dem Hamburger Psychotherapeuten | |
Karl-Rüdiger Hagelberg so, „als wenn die Öffentlichkeit selbst in der | |
lähmenden Unzugänglichkeit Kohls etwas wiedererkannte, was mit | |
’Vaterschaft‘ zu tun hatte“. Helmut Kohl, der symbolische Vater von | |
Generationen. | |
Auch die Tabuverletzung der „Ärzte“ wird verständlicher, wenn man ihr Lied | |
nicht allein als kalauernde Schmähung eines Politikers versteht, sondern | |
als halb ängstliche, halb lustvolle Beschimpfung einer Vaterfigur. Sie | |
passte in die Zeit: Die Wut der 68er auf alles, was als männlich und | |
väterlich galt, wirkte noch in den 80er Jahren nach. | |
Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich hatte schon Anfang der 60er | |
Jahre die Rede von der „vaterlosen Gesellschaft“ etabliert. Mitscherlich | |
beklagte das Fehlen positiver Väterlichkeit. Es mangele an Männern, die | |
ihre Kinder nicht einschüchtern oder ihnen nicht gleichgültig | |
gegenüberstehen, sondern sie im Wortsinn an die Hand nehmen. Die kindliche | |
Sehnsucht nach Orientierung, gerade auch der Wunsch nach Antworten auf die | |
Frage, was Mannsein bedeutet, bleibe unbefriedigt. Mit Blick auf die | |
angeblich „vaterlandslosen Gesellen“, die ihre Vätergeneration für deren | |
Militarismus geißelten, schrieb Mitscherlich: „Was da in der Frankfurter | |
Mensa dachte und um Formulierungen der Wirklichkeit rang, waren […] | |
vaterlose Gesellen – von den Vätern im Stich Gelassene.“ | |
## Das ideale Hassobjekt | |
Die Jugendlichen der 80er und frühen 90er Jahre wiederum hatten den daraus | |
folgenden männlichen Selbsthass nicht überwunden, bloß notdürftig | |
ironisiert: „Er ist ein Mann genau wie wir. Tief in ihm, da steckt ein | |
Tier.“ | |
Wer jemanden hasst oder bewundert, zeigt vor allem etwas von sich. Viele | |
von denen, die damals Kohl lächerlich machten, verspotteten auch die eigene | |
Sehnsucht nach einem hilfreichen Vater. Sie verlachten ihre aus | |
Enttäuschung geborene Wut auf häufig physisch, aber auch psychisch | |
abwesende Väter. Der ferne Kohl – der einzige Kanzler, den die meisten von | |
ihnen kennengelernt hatten – war das ideale Hassobjekt. | |
Groß und dick, mit tiefer Stimme, zielstrebig, dabei scheinbar unbewegt von | |
aller Kritik – so ein archetypischer Kerl zog die Söhne abwesender Väter | |
an, und er weckte die Wut der anderen. In seiner Bräsigkeit, mit | |
Strickjacke und Hausschuhen, eignete sich Kohl weit besser als der kühle | |
Helmut Schmidt oder der kumpelhafte Gerhard Schröder als Projektionsfläche. | |
Kohl erinnerte die Kinder der bundesrepublikanischen Mittelschicht an ihre | |
eigene kleinbürgerliche Herkunft. Richard von Weizsäcker war so, wie viele | |
Deutsche gern sein wollten. Kohl war so, wie sie nicht mehr sein wollten. | |
## Grässlich, aber verlässlich | |
„Hinter dem ’System Kohl‘“, schreibt Psychotherapeut Hagelberg, „steht | |
jedoch ein viel allgemeineres, psychodynamisch erklärbares Phänomen: die in | |
der Forschung gut bekannte und offenbar bis zur Gegenwart sich fortsetzende | |
und vielerorts zerstörerisch wirkende ’Unerreichbarkeit der Väter‘ in ihr… | |
narzisstischen System“. Das heißt: Wer von seiner Gefolgschaft als eine Art | |
Vater gesehen wird, um dessen rare Zuneigung gebuhlt werden muss, der | |
erhält große Macht. Dieser psychische Mechanismus beeinflusste auch Kohls | |
Gegner. Darunter waren viele, die in ihrer Kindheit ähnliche Erfahrungen | |
mit ihren Vätern gemacht hatten, aber andere Schlüsse daraus zogen: offenen | |
Groll, Wut, Hass. | |
Auch für seine Gegner blieb der dicke Mann im Fernseher unerreichbar. Aber | |
ihn konnte man verspotten, beleidigen und lächerlich machen – anders als | |
den eigenen Vater. Kohl war grässlich, aber verlässlich. Er kam jeden Abend | |
wieder, spätestens zur „Tagesschau“ um 20 Uhr. Und er blieb. Und blieb. 16 | |
Jahre Kanzler. 25 Jahre Parteichef. | |
Wie ein unerreichbarer Vater den Sohn prägt, hat in jüngster Zeit niemand | |
eindrücklicher erklärt als Helmut Kohls älterer Sohn Walter. In seiner | |
Autobiografie „Leben oder gelebt werden“ schrieb der heute 49-Jährige 2011 | |
über die Bedrückungen seiner Kindheit: „Selbst wenn er zu Hause weilte, war | |
Vater für uns Kinder, solange wir noch klein waren, nur begrenzt | |
erreichbar. Dass ein Vater seinem Sohn ’die Welt erklärt‘, dass er seine | |
neugierigen Fragen beantwortet, dass er mit ihm spielt, dass er – wie es | |
die heutige Pädagogik nennt – ’Qualitätszeit‘ mit ihm verbringt: All das | |
hatte in unserer Familie keine Priorität.“ Eine deutsche | |
Nachkriegskindheit. Alltäglich, aber nicht gesund. | |
„Du musst stehen!“, hatte der Vater seinem Sohn Walter gesagt, als dieser | |
in der Grundschule gehänselt und geschlagen wurde. Der Sohn verstand | |
instinktiv die doppelte Bedeutung der väterlichen Worte: Du musst stehen, | |
denn du stehst allein da. Wie das geht, sagte der Vater nicht. | |
Und dann war Kohl plötzlich weg. In vielen Medienberichten nach der | |
Wahlniederlage 1998 klang die Überraschung darüber durch, wie gelassen die | |
„Machtmaschine“ ihren Amtsverlust nahm. Die Projektionsfläche war weg, und | |
etwas fehlte. Welche Genugtuung war es da, als Kohl nur ein Jahr darauf in | |
verzweifelter Wut seinen aufblühenden Nachruhm selbst niedermähte. | |
## Das Betteln der Söhne | |
In der CDU-Spendenaffäre war noch einmal, wie in einem Kammerspiel, alles | |
versammelt, was das „System Kohl“ ausmachte: die Selbstgerechtigkeit des | |
fernen „Vaters“. Das verzweifelte Betteln der Partei-„Söhne“, Kohl mö… | |
doch noch die Spendernamen nennen und ihnen so den Bruch mit ihm ersparen. | |
Und da waren jene „Söhne“ auf der anderen Seite, die froh waren, ihr lieb | |
gewonnenes Hassbild vom „Vater“ nicht revidieren zu müssen. | |
Heute ist Helmut Kohl ein Greis, und eine Kneipe in Berlin-Neukölln trägt | |
seinen Namen. Natürlich ironisch gemeint, irgendwie. Dabei ist es überhaupt | |
nicht peinlich, dass ausgerechnet Kohl Sehnsüchte nach einem Vater auf sich | |
zog. Peinlich ist nur, dass es für so viele Menschen nötig war. | |
27 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Matthias Lohre | |
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