# taz.de -- Kommentar Helmut Kohl: Zu viel Versöhnung | |
> Während seiner Kanzlerschaft war Helmut Kohl oft das Ziel irrationaler | |
> linker Kritik. Jetzt wird er immer milder betrachtet. Das war und ist | |
> falsch. | |
Ja, früher war alles besser. Im Rückblick macht sich, 30 Jahre nachdem | |
Helmut Kohl der ewige Kanzler wurde, große Milde breit. Auch bei Linken. Es | |
war doch nicht alles schlecht. Man schätzt den Exkanzler als verdienten | |
Europäer, und die Fehler bei der deutschen Vereinigung schrumpfen aus der | |
zeitlichen Entfernung zu Kleinigkeiten. | |
Es herrscht Versöhnungsstimmung, fast ein bisschen feierlich. Diese | |
Harmonie ist grundiert von sentimentaler Sehnsucht nach der westdeutschen | |
Gemütlichkeit. Hätte es den Kosovokrieg oder Hartz IV mit Kohl nicht | |
gegeben? Das Lob für den einstigen Kanzler wächst aus einer merkwürdigen | |
Melange aus Selbstverachtung der politischen Linken und ihrem schlechten | |
Gewissen. Denn die Linke hat Kohl nie richtig begriffen. Und jetzt im | |
milden Abendlicht wird die Kohl-Ära immer besser – so wie beim Wein. | |
Dieses späte Harmoniebedürfnis spiegelt auch die mannigfachen Irrtümer der | |
Linken. 1982 hatte man für diesen Kanzler nur Spott übrig, der immer zu | |
billig war. Vor Strauß konnte man sich fürchten. Kohl, der Provinzielle, | |
war nur peinlich. Dass Kohl die CDU energisch modernisierte und ein | |
versierter Machtpolitiker war, so wie Merkel später, das haben zu viele zu | |
spät verstanden. | |
Dass manche Linke Kohl zur deutsche Version von Thatcher erklärten, war | |
ebenso ein grotesker Irrtum. Denn Kohl und sein Arbeitsminister Norbert | |
Blüm repräsentierten den rheinischen, den sozial abgefederten Kapitalismus. | |
Die neoliberale Wende vollzogen ironischerweise seine rot-grünen | |
Nachfolger. Die Linke hat Kohl mal unter-, mal überschätzt. Falsch lag sie | |
immer. | |
So ist es jetzt auch. Denn es gibt keinen Grund, diese 16 Jahre Kohl | |
bonbonfarben anzumalen. Eine der ersten Maßnahmen der konservativen | |
Regierung war, 1983 jedem Ausländer 10.000 Mark in die Hand zu drücken, | |
wenn er Deutschland verlässt. Der kluge Liberale Gerhart Baum fasste diese | |
Ausländerpolitik prägnant zusammen: „Nimm die Prämie und hau endlich ab!“ | |
Als deutsche Rassisten 1993 eine türkische Familie ermordeten, ließ Kohl | |
kaltherzig erklären, für „Beileidstourismus“ sei er nicht zu haben. Es | |
waren 16 Jahre, in denen die Lebenslüge, die Bundesrepublik Deutschland sei | |
kein Einwanderungsland, mit stählerner Ignoranz aufrechterhalten wurde. Es | |
waren in der Energiepolitik 16 verlorene Jahre. Und kein Bundeskanzler hat | |
sich, so wie es Helmut Kohl in der Parteispendenaffäre seiner CDU tat, wie | |
ein Feudalherr über die Gesetze gestellt. Alles vergessen? | |
Es geht nicht darum, verstockt alte Gegnerschaften zu konservieren. Das ist | |
nicht souverän. Aber man muss das ganze Bild sehen. Es hat hässliche | |
Seiten. | |
1 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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