# taz.de -- Die SPD in den 1970ern: Ein goldgraues Jahrzehnt | |
> Historiker und Politiker blickten in Berlin auf die SPD der 1970er Jahre | |
> zurück. Anlass ist ein neues Buch des Historikers Bernd Faulenbach. | |
Bild: Hans-Dietrich Genscher (FDP), hier eingerahmt von Schmidt und Brandt, hat… | |
BERLIn taz | Eine ergraute Herrenrunde kam am Dienstag im Berliner | |
Willy-Brandt-Haus, der Parteizentrale der SPD, zusammen. Unter dem Titel | |
„Weichenstellungen der 70er Jahre“ diskutierten Wolfgang Thierse, Karsten | |
Voigt – 1969 bis 1972 Juso-Vorsitzender – und der Historiker Peter Brandt | |
mit dem Historiker Bernd Faulenbach die Rolle der SPD unter Willy Brandt | |
und Helmut Schmidt. | |
Faulenbach hat mit „Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der | |
Reformeuphorie zur Neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969–1982“ gerade ein | |
Mammutwerk vorgelegt. Er sitzt seit 1989 der Historischen Kommission der | |
SPD vor und hat umfassendes Material der Friedrich-Ebert-Stiftung und des | |
Willy-Brandt-Archivs zusammengetragen. Seine These: Mit dem Beginn der | |
Kanzlerschaft Brandts 1969 erfolgte eine Neugründung der Bundesrepublik. | |
Die Befangenheit des Autors als Sozialdemokrat hält niemand für | |
problematisch. Im Gegenteil: Nur so könne der eigene Standort reflektiert | |
werden, sagt Peter Brandt. Und tatsächlich macht die Innenansicht | |
Faulenbachs Ausführungen interessant. Die 1970er Jahre gelten den | |
Sozialdemokraten bis heute als Goldenes Jahrzehnt. „Zu Recht?“, fragt | |
Thierse. | |
Einig ist sich das Podium darin, dass die SPD an einem fundamentalen | |
Wertewandel in der Nachkriegsgesellschaft mitgewirkt hat. Voraussetzung | |
dafür sei die große Koalition gewesen. „Das war die Ouvertüre, in der die | |
SPD auf das Regieren vorbereitet worden ist“, so Faulenbach. Karsten Voigt | |
widerspricht der Darstellung eines konfliktfreien Wegs der SPD hin zur | |
Koalition mit der FDP. Er selbst demonstrierte gegen die große Koalition: | |
„Das war nicht harmonisch!“ | |
## Neue politische Ära | |
Das Versprechen einer neuen Ostpolitik mobilisierte nicht nur die | |
traditionellen Anhänger. Tatsächlich läuteten die ersten Gespräche mit der | |
DDR-Führung und Brandts Kniefall in Warschau eine neue politische Ära ein. | |
„Das hat der Sozialdemokratie eine ganz andere Legitimität gegeben“, | |
konstatiert Peter Brandt. | |
Mit Slogans wie „Mehr Demokratie wagen“ gelang es der SPD, an traditionelle | |
Forderungen nach gesellschaftlicher Teilhabe anzuknüpfen, die zu einer | |
neuen Arbeitnehmer- und Bildungspolitik führten. Das entsprach dem | |
Zeitgeist: Allein 1972 traten 100.000 oft junge Menschen in die SPD ein. | |
„Gärende Impulse wurden von der Regierung aufgegriffen“, so Faulenbach. | |
Auf die euphorische Ära Brandt folgte nach 1974 die Ernüchterung. „Die | |
Wachstumsraten der Wirtschaft gingen in den Keller. Es war vieles nicht | |
mehr möglich“, so Faulenbach. Vor allem aber etablierten sich die | |
Alternativbewegungen von Anti-Atom-Gruppen bis zu RAF-SympathisantInnen. | |
Voigt, Anfang der 70er in Frankfurt aktiv, erinnert sich an die Ignoranz | |
der SPD. „Große Teile hatten kein Sensorium für das Aufkommen der sozialen | |
Bewegungen.“ Die ideologischen Risse gingen quer durch die Partei. | |
## Männerdominiert und rückwärtsgewandt | |
Für viele hatte die SPD die Versprechen auf Erneuerung schlicht nicht | |
eingelöst: Berufsverbote folgten auf den Radikalenerlass, die Stationierung | |
der Pershing-Raketen auf den Nato-Doppelbeschluss, Gewerkschafter | |
demonstrierten für Atomkraft. „Das hat die SPD in vielen Kreisen moralisch | |
unglaubwürdig gemacht“, resümiert Voigt. Obwohl der Jungsozialist damals | |
nach Alternativen zu Schmidts Kurs suchte, lobt er heute dessen | |
Krisenmanagement. | |
Plastisch wird das Dilemma mit der These vom goldenen Jahrzehnt als Produkt | |
der Sozialdemokratie aber an einem anderen Punkt. In der Diskussion meldet | |
sich die ehemalige SPD-Abgeordnete Anke Martiny zu Wort. Sie hält die Rolle | |
der sozialen Bewegungen für unterschätzt: Die SPD habe sich nicht | |
inspirieren lassen, sie sei getrieben worden. Dass die Frauenbewegung auf | |
dem Podium gar nicht erwähnt wurde, erscheint symptomatisch. „Man kann von | |
einem Versagen der SPD auf dem gesamten Sektor der Gleichstellungspolitik | |
sprechen“, so Martiny. „Die Erfolge haben andere eingefahren.“ | |
Faulenbach versucht sich aus der Affäre zu ziehen: Er habe auch ein | |
Buchkapitel den Frauen in der SPD gewidmet. Wie rückwärtsgewandt die | |
männerdominierte Partei in Sachen Geschlechterpolitik zu einem Zeitpunkt | |
war, als die Gleichstellung längst eine Kernforderung der alternativen | |
Strömungen war, sei ihm erst bei der Recherche aufgefallen. Dies ist ein | |
Anzeichen dafür, dass die SPD bereits Mitte der 1970er von | |
linksalternativen Bewegungen abgehängt wurde. Bis heute hat sie nicht | |
aufgeschlossen. | |
26 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Sonja Vogel | |
Sonja Vogel | |
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Aufrüstung | |
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