# taz.de -- Kolumne Back On The Scene: Die Froschfalle | |
> Sitzen drei Männer in einem Kellerloch an der Ostsee und reden. | |
Wenn man in Berlin wohnt und mit den Nerven runter ist, dann fährt man an | |
die Ostsee. | |
Der Meerblick in unserer Ferienwohnung auf der Insel Poel ist zwar | |
vorhanden, entpuppt sich aber bei genauem Hinsehen als Blick aus einer | |
Kellerwohnung. Um das Meer zu sehen, muss man in das Wohnzimmer gehen, das | |
in feinstem Gelsenkirchener Barock eingerichtet ist. Die Wohnung ist mit | |
braunem Teppich ausgekleidet, es riecht nach Heizöl und Raumerfrischer – | |
immerhin der Duftrichtung „Meeresbrise“. Wir sind zu dritt und hier erst | |
recht der Verzweiflung nahe – wie soll man den Nerven in einer solchen | |
Atmosphäre Gutes tun? | |
Der eine von uns hat starken Liebeskummer, er ist ganz dünn geworden und | |
blickt mit traurigen schwarzen Augen in die Welt. Der andere von uns muss | |
seine Dissertation fertigstellen und hat darüber schon jetzt ganz viele | |
Falten zwischen den Augenbrauen bekommen. Ich selbst bin seit Wochen damit | |
beschäftigt, einen veritablen Burn-out vorzubereiten. | |
Wie soll man hier seinen Nerven Gutes tun? Mit etwas, das zur Einrichtung | |
passt. Wir beschließen, Gulasch zu kochen nach Großmutters Rezept. Nach dem | |
Einkauf quetschen wir uns alle drei in die ungefähr vier Quadratmeter große | |
Küche. Es gibt kaum Luft zum Atmen, weil alle rauchen und es im Schmortopf | |
ordentlich zischt, schmurgelt und dünstet. Wir trinken Rotwein und reden. | |
Der eine von uns, der mit dem Liebeskummer, hat einen | |
„Migrationshintergrund“, und weil er schwarze Locken hat und dunkle Haut | |
und einen fremd klingenden Namen, ist dieser Hintergrund ständig im | |
Vordergrund. Der andere von uns ist groß und blond und stottert. Wenn er | |
mit dem „s“ ringt, dann kann das jeder hören und es macht die Sache nicht | |
leichter für ihn. | |
Ich selbst denke darüber nach, dass ich früher, als Jugendlicher, nie auf | |
die Idee gekommen wäre, mit zwei Heterofreunden einen Kurzurlaub zu machen | |
– ich hatte keine Heterofreunde, weil ich dachte, dass mich solche Menschen | |
ablehnen würden. | |
Gulasch kochen, Gulasch essen, das ist ein Zuhausesein. Der Rotwein löst | |
die Zungen und auch das mit dem „s“ klappt nun besser. | |
Wir reden darüber, wie schwer es für den einen mit dem Liebeskummer war, | |
als er nach Deutschland kam. Mit nur 800 Dollar in der Tasche. Der andere | |
erzählt, welche Katastrophe es war, als ihm seine Eltern als junger Mensch | |
die Stottertherapie nicht zahlen konnten. Sie hatten die 1.500 Euro nicht. | |
Und ich traue mich zu erzählen, wie es wirklich ist mit dem Schwulsein – | |
und wie schwer das für mich war, früher mal. | |
Wir sitzen in einem winzigen Kellerloch auf einer Insel, fernab der Welt. | |
Das Loch ist wie ein Bunker, in dem wir, die Abgesonderten, uns sicher | |
fühlen können. Das Loch ist eine kleine Zelle, in der unser „Anderssein“ | |
nicht mehr schlimm ist, wir können uns sogar ein wenig darin baden. | |
Am nächsten Morgen blicken wir beim Rauchen auf die Kiesdrainage vor dem | |
kleinen Küchenfenster. Dort liegen unzählige kleine Froschleichen. Die | |
Frösche waren in das Loch gehüpft und sind darin umgekommen. Sie kamen | |
nicht mehr raus und vertrockneten. | |
Wir packten unsere Sachen und fuhren nach Hause, zurück nach Berlin. | |
Erleichtert, denn dort würden wir wieder mitten im Leben sein. | |
1 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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