# taz.de -- Debatte Syrien: Eingreifen! Jetzt! | |
> Das Morden in Syrien kann nur mit einer militärischen Intervention | |
> eingedämmt werden. Die Feigheit der Politik fordert immer mehr Opfer. | |
Bild: Streubombe in Tamanea. Human Rights Watch wirft der syrischen Regierung v… | |
Auf die deutsche Bundesregierung ist Verlass. Einen Tag nach der Verleihung | |
des Friedensnobelpreises an die Europäische Union reist der Außenminister | |
des größten EU-Mitglieds in den wichtigsten Frontstaat des derzeit | |
blutigsten Konflikts auf der Welt. Der richtige Mann am richtigen Ort zur | |
richtigen Zeit, könnte man meinen. Und was sagte Guido Westerwelle am | |
Samstag in Istanbul? | |
Er mahnte die Türkei zur Zurückhaltung. Richtig: die Türkei. Fast täglich | |
schlugen letzte Woche syrische Granaten auf türkischem Gebiet ein, über | |
100.000 syrische Flüchtlinge drängen sich in türkischen Dörfern und Lagern, | |
ein syrisches Passagierflugzeug wurde mit russischem Militärmaterial an | |
Bord im türkischen Luftraum ertappt. | |
Aber in Reaktion ermahnt Deutschland nicht Syrien, sondern die Türkei und | |
fordert von ihr, in Westerwelles eigenen Worten, „Besonnenheit und | |
Deeskalation“. Und er fügt hinzu: „Es ist wichtig, dass niemand auf | |
Provokation hereinfällt, sondern dass wir unsere Arbeit fortsetzen, um | |
einen demokratischen Neuanfang in Syrien zu ermöglichen.“ | |
## Verrat an den Syrern | |
Diese Arbeit ist ja offensichtlich erfolgreich. In Syrien starben an diesem | |
Samstag nach Oppositionsangaben wieder rund 75 Menschen im Krieg, eine ganz | |
normale Tagesbilanz. Die Zahl der Toten der letzten 19 Monate liegt | |
insgesamt bei weit über 30.000, der Großteil davon im letzten halben Jahr. | |
Rebellen und Regierungstruppen kämpfen um die Kontrolle der Straßen nach | |
Aleppo, und zunehmend machen die Aufständischen dem Assad-Militär die | |
Lufthoheit streitig. | |
Der Krieg tobt, und mit jedem Monat wird er heftiger. Westerwelle sagte | |
dazu bei seinem Türkei-Besuch nichts, jedenfalls nicht in der | |
Öffentlichkeit. Von internationaler Seite ist kein koordiniertes Eingreifen | |
in Syrien zu erwarten. Das wissen die Syrer, und sie zählen darauf auch | |
nicht mehr. Sie haben die Verlogenheit der Welt erlebt. | |
Als zu Beginn des Volksaufstands gegen das Assad-Regime die Opposition auf | |
friedliche Proteste setzte, die dann im Blut ertränkt wurden, lautete das | |
Argument gegen ein Eingreifen nach libyschem Vorbild: Man kann Assads | |
Sicherheitsapparat aus der Ferne nicht stoppen, es gibt keine „befreiten | |
Zonen“, die man schützen könnte. | |
Dann griff die Opposition zu den Waffen, sie schuf „befreite Zonen“, etwa | |
ganze Stadtteile von Aleppo, und das Regime bekämpfte sie aus der Luft. | |
Daraufhin lautete ein Argument gegen ein Eingreifen: Es herrscht | |
Bürgerkrieg, man darf ihn nicht zusätzlich anfachen, sonst wird daraus ein | |
Regionalkonflikt, und überhaupt braucht man doch eine politische Lösung. | |
Heute sind alle politischen Initiativen versandet, der befürchtete | |
Regionalkonflikt ist mit Händen zu greifen, die syrisch-türkischen | |
Auseinandersetzungen stehen an der Schwelle zum Krieg. Und nun lautet das | |
Argument offenbar, selbst ein entschlossenes Reagieren würde nur bedeuten, | |
dass man „auf Provokation hereinfällt“. | |
## Assad setzt auf Eskalation | |
Es ist ein Satz von atemberaubender Dummheit. Wäre es denn besser, | |
unprovoziert zu reagieren? Warum soll sich die Türkei zurückhalten, wenn | |
der syrische Konflikt ihr Staatsgebiet erreicht? Zehntausende Soldaten und | |
hunderte Kampfpanzer hat die türkische Armee an die Grenze verlegt. Warum | |
sollen sie nicht nach Syrien rollen und dort die Menschen gegen den | |
Massakerapparat Assads schützen? Weil dann die „Arbeit“ an einem | |
„demokratischen Neuanfang in Syrien“ in Gefahr geriete? | |
Es gibt in Syrien heute einzig und allein eine militärische Entscheidung. | |
Das wissen die Syrer längst, und zwar auf allen Seiten. Deswegen herrscht | |
ja Krieg. Die Regierung Assad setzt voll auf Eskalation. Ihre syrischen | |
Gegner wissen und erfahren das täglich. Sie sitzen nicht mehr schön zivil | |
herum, um auf eine internationale Gemeinschaft zu warten, die nicht kommt. | |
Es ist ein zunehmend schmutziger Krieg. | |
Mit jedem weiteren Kriegstag schwindet die Aussicht auf einen | |
„demokratischen Neuanfang in Syrien“ weiter. Ein Eingreifen hinauszuzögern | |
oder gar ganz zu verhindern bedeutet, wissentlich den Tod weiterer | |
zehntausender Syrer in Kauf zu nehmen und die Perspektiven immer weiter zu | |
verdüstern. Nur durch eine militärische Intervention ist das Morden | |
überhaupt noch zumindest punktuell einzudämmen und ein Stück Hoffnung am | |
Leben zu erhalten. | |
Was Intervention konkret heißen müsste, daran hat sich in den letzten | |
Monaten nichts geändert: das gezielte Ausschalten der wichtigsten | |
Luftwaffenstützpunkte und Raketenstellungen des Regimes, die Entsendung von | |
Schutztruppen für die befreiten Gebiete, die Sicherung humanitärer Hilfe | |
für die Kriegsopfer. | |
Eventuell – aber nur eventuell – könnte dies die Kräfteverhältnisse so | |
verändern, dass ein neuer Anlauf zur politischen Vermittlung denkbar wird | |
und dann die derzeit vom UN-Sondergesandten Lakhdar Brahimi ventilierte | |
Option einer UN-Blauhelmtruppe nach libanesischem Vorbild in den Horizont | |
des Möglichen rückt. Wenn nicht, bliebe immer noch die Option des gezielt | |
herbeigeführten gewaltsamen Machtwechsels: lieber ein Ende mit Schrecken | |
als ein Schrecken ohne Ende. | |
Aber das bleibt Wunschdenken. Wären die Nato-Staaten oder auch einfach die | |
USA an einem Eingreifen in Syrien interessiert, hätten sie mit den | |
ständigen Übergriffen Syriens auf die Türkei längst eine Rechtfertigung, | |
die ganz ohne UN-Sicherheitsratsresolutionen auskäme: Beistand für einen | |
angegriffen Nato-Partner, Recht auf Selbstverteidigung. Aber das ist nicht | |
in Sicht. Assad ist nicht Gaddafi. Der libysche Revolutionsführer war | |
einfach nervig und am Schluss für alle Großmächte entbehrlich. Der syrische | |
Präsident hingegen gilt als Stabilitätsanker. | |
Alle haben Angst davor, dass mit einem Syrien ohne Assad alles aus den | |
Fugen gerät, von Israel bis Iran. Und weil Politiker nichts tun wollen, | |
dessen Folgen sie nicht kennen, tun sie nichts. Sorgen macht sich die | |
internationale Gemeinschaft weniger um das syrische Volk als um das | |
syrische Chemiewaffenarsenal. An Syrien offenbart sich der Zynismus der | |
Welt. Aber es gibt zu jeder politischen Entscheidung politische | |
Alternativen. Wer traut sich, sie zu formulieren und einzufordern? | |
16 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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