# taz.de -- Salafisten in Ägypten: Der Verlust der politischen Unschuld | |
> Im Namen Gottes in die ägyptische Politik gekommen, sind die Salafisten | |
> nun in irdische Machtkämpfe verstrickt. Der Imageschaden ist gewaltig. | |
Bild: Pinocchio: Anwar al-Balkimy (Bildmitte) flog wegen einer Nasen-OP aus der… | |
KAIRO taz | Scheich Yasser Borhamy, einer der geistlichen Führer der | |
ägyptischen Salafisten, nimmt meist kein Blatt vor den Mund, wenn er seine | |
islamisch-ultrakonservative Gesellschaftsvision predigt. | |
Unlängst stand der aus Alexandria stammende Prediger auf seiner Kanzel beim | |
Freitagsgebet in der Nildelta-Kleinstadt Kafr Dawwar und wetterte gegen die | |
ägyptischen Liberalen, die die Geschlechtergleichheit in der Verfassung | |
festschreiben wollen. Er lehne Gewalt gegen Frauen ab, meinte er dort | |
weiter, aber Gott habe bestimmte Formen, seine Ehefrau zu schlagen, | |
erlaubt, solange sie dabei nicht körperlich zu Schaden komme oder eine | |
Narbe hinterlassen werde. | |
Erzkonservative wie Scheich Borhamy hatten noch Anfang des Jahres gejubelt, | |
als ihre neu gegründete Salafistenpartei „al-Nour“, zu Deutsch „das Lich… | |
fast ein Viertel der Stimmen des inzwischen aufgelösten Parlaments für sich | |
gewinnen konnte. | |
Nach den islamisch-konservativen Muslimbrüdern hatten sich die Salafisten | |
damit als zweitgrößte politische Gruppierung etabliert. Doch nun scheint | |
es, als würden sie von ihrem eigenen Erfolg verschlungen. Seit Wochen üben | |
sich die Mitglieder von al-Nour in öffentlicher Selbstzerfleischung, und | |
das vor neuen Parlamentswahlen, die demnächst anstehen. | |
## Missionare gegen Funktionäre | |
Zwei Blöcke stehen sich innerhalb der Partei gegenüber. „Da sind einmal die | |
Prediger und Scheichs, sozusagen die alten Missionare der salafistischen | |
Bewegung. Sie wollen alle Parteiaktivitäten kontrollieren“, erläutert der | |
Salafisten-Experte Ahmad Zaghloul. „Und dann ist da der andere Block der | |
Politiker und Parteifunktionäre, die um mehr Unabhängigkeit von den | |
Scheichs kämpfen.“ | |
Der erste Block wird angeführt von Scheich Borhamy, dem Vizepräsidenten der | |
Salafi Dawa, einer Organisation für salafistische Missionierung. Sie ist | |
die größte ägyptische Salafisten-Gruppierung, deren politischer Arm die | |
Al-Nour-Partei darstellt. | |
Dem zweiten Block steht der bisherige Vorsitzende der Al-Nour-Partei, Emad | |
Abdel Ghafour, vor. Beide Seiten kämpfen mit harten Bandagen, | |
Parteiausschlüssen oder Gerichtsverfahren, leisten sich auf Facebook und | |
Twitter eine Schlammschlacht, um sich dann am Ende kurzzeitig wieder | |
öffentlich zu versöhnen. | |
Mit ihrem Eintritt in die Politik haben die Salafisten für viele Ägypter | |
auch ihren heiligen Nimbus verloren. In der Tagespolitik können sie sich | |
nicht mehr als die reinen Vertreter göttlicher Politik vermarkten. „Die | |
letzten Differenzen haben den Leuten gezeigt, dass die Salafisten nicht | |
unfehlbar und auch nur Menschen sind, eben wie alle anderen Parteien. Sie | |
streiten ganz profan um Posten“, meint Zaghloul. | |
## Rückwärts gewandte Islam-Interpretation | |
Die ultrakonservative salafistische Bewegung hat seit den 1970er Jahren | |
einen langen Weg zurückgelegt, führt Zaghloul aus. Ursprünglich war sie nur | |
bekannt als Anhängerschaft einiger weniger Prediger in der Provinz | |
Alexandria bis zum Gewinn von einem Viertel der Sitze im Parlament Anfang | |
des Jahres. Die rückwärts gewandte Islam-Interpretation wurde vor allem von | |
radikalen Predigern in Moscheen verbreitet und durch Wohlfahrtsaktivitäten | |
in den Armenvierteln der Städte und auf dem Land. | |
Später in 1990er Jahren sorgte das Internet für einen Durchbruch, als die | |
radikalen Predigten der Scheichs von Alexandria dort Verbreitung fanden. | |
Den nächsten Schub bekamen die Salafisten nach dem Sturz Mubaraks; als ihre | |
Fernsehkanäle wie Pilze aus dem Boden schossen. | |
Dort war es auch, wo der in den USA produzierte Mohammed-Schmähfilm | |
erstmals von ihnen aufgegriffen und in der gesamten arabischen Welt per | |
Satellitenfernsehen bekannt gemacht wurde. Es waren auch die | |
Salafisten-Kanäle, die zu den ersten Protesten vor der US-Botschaft | |
aufgerufen hatten. | |
Einig sind sich die Salafisten in ihrer Ideologie, die einer | |
buchstabentreuen Interpretation des Korans entspringt, mit ihrer Forderung, | |
dass die Gesellschaft von heute der des Propheten Mohammed im siebten | |
Jahrhundert nacheifern soll. Aber wie dort hinkommen, darin unterscheiden | |
sich die salafistischen Denkschulen ganz erheblich. | |
## So greifbar wie ein Stück Götterspeise | |
Neben ihrem erzkonservativen Religionsverständnis predigten die Scheichs | |
auch, sich von der Politik fernzuhalten. Demokratie war für sie ein | |
westliches Teufelsinstrument. Eine Position, die sich erst nach dem Sturz | |
Mubaraks änderte, als sich ein Teil der Salafisten in der al-Nour, der | |
Partei des Lichts, organisierte. | |
Heute ist die salafistische Bewegung in Ägypten ungefähr so greifbar wie | |
ein Stück Götterspeise. Trotz ihrer ideologischen Übereinstimmung gibt es | |
große Unterschiede. Es gibt immer noch jene, die hauptsächlich missionieren | |
wollen und die sich von jeglicher Politik fernhalten. Andere haben sich | |
dagegen zur politischen Teilnahme entschlossen. Die al-Nour stellt dabei | |
nur die größte Partei dar. Daneben gibt es drei weitere salafistische | |
Parteien. | |
Und dann trieben vor allem im Nord-Sinai noch jene Salafisten ihr Unwesen, | |
die im Dschihad ihr Heil suchen. Als Letztes existiert noch jener Flügel, | |
der predigt, sich jedem Herrscher bedingungslos unterzuordnen. Was damals | |
für Mubarak galt, gilt heute für den Präsidenten Mohammed Mursi. | |
Dazu kommt, dass so manche der salafistischen Politiker menschliche | |
Schwächen zeigen. Der Parlamentarier Anwar al-Balkimy wurde dieses Jahr aus | |
der Partei ausgeschlossen, weil er vorgegeben hatte, dass er überfallen und | |
verletzt worden sei. | |
Es stellte sich jedoch heraus, dass seine Gesichtsbandagen nicht von einem | |
Überfall, sondern von einer Schönheitsoperation stammten, bei der er sich | |
seine Nase verkleinern ließ. Er musste sich zwischen zwei Sünden | |
entscheiden: das Antlitz zu verändern, das ihm Gott gegeben hat, oder zu | |
lügen. Al-Balkimy entschied sich für die Lüge, wurde erwischt und zur | |
Lachnummer in der Presse. | |
## Scheich Borhamy predigt weiter | |
Das Ansehen der Salafisten in der ägyptischen öffentlichen Meinung ist | |
schwer beschädigt. „Die al-Nour hatte 112 Sitze im letzten Parlament. Was | |
gerade mit der Partei geschieht, wird dazu führen, dass sich manche ihrer | |
Wähler den moderateren Muslimbrüdern oder anderen radikaleren | |
salafistischen Gruppen anschließen werden. Wieder andere werden gar nicht | |
mehr wählen gehen“, glaubt Salafisten-Experte Zaghloul. | |
Der radikale Scheich Borhamy macht einfach weiter wie immer – er predigt | |
vor seinen Anhängern. Letzten Freitag tat er das zum ersten Mal seit dem | |
Sturz Mubaraks in Kairo. Seinen Anhängern gegenüber gibt er sich gelassen, | |
was den Machtkampf angeht. | |
Denen erklärt er in seiner Predigt auch noch einmal sein | |
Demokratieverständnis. „Demokratie ist nicht unbegrenzt die Souveränität | |
des Volkes, das mehrheitlich entscheidet“, predigt er seinem meist bärtigen | |
Publikum, in dem viele mit ihren Handykameras die Lektion eifrig aufnehmen. | |
„Für uns gibt es eine klar eingezogene Decke im demokratischen Gebäude. Die | |
vom Parlament geschaffenen Gesetze können nicht definieren, was halal, | |
islamisch korrekt, und haram, eine islamische Sünde, ist, und das ist unser | |
Leitfaden“, sagt der Scheich. | |
17 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Karim Gawhary | |
Karim El-Gawhary | |
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