# taz.de -- Nostalgie in Montenegro: Erdnussflips und Sozialismus | |
> 2006 wurde Montenegro eigenständig. Heute überwiegt die Nostalgie den | |
> Glauben an eine Zukunft in der EU. Davon zeugen auch die Relikte aus der | |
> Vergangenheit. | |
Bild: Nostalgie: Tito sorgt für gute Luft im alten Mercedes. | |
Die Bahnstrecke zwischen der serbischen Hauptstadt Belgrad zur ehemaligen | |
Industrie- und Hafenstadt Bar ist legendär. Nach 24-jähriger Bauzeit wurde | |
das jugoslawische Mammutprojekt 1976 eingeweiht: Knapp 500 Kilometer | |
Schienen laufen durch 254 Tunnel und über 243 Brücken durch Montenegros | |
Berge. Es heißt, mit etwas Glück könne man auf der Fahrt einen Wagen des | |
Plavi Voz – Titos Privatzug – erwischen. Dabei hatte Tito seine Ferien | |
stets in Slowenien verbracht. | |
Heute sind die Industrieanlagen von Bar marode, die Stadt ist verarmt. Am | |
Haltepunkt der Neustadt ragt neben den leerstehenden sozialistischen | |
Kaufhausbauten und den Minaretten der Altstadt das Skelett einer Kirche mit | |
riesigen Betonkuppeln auf. Die montenegrinisch-orthodoxe Kirche ist zwar | |
nicht anerkannt – Geld aber hat sie dennoch. | |
An der Küste ist der Bus das einzige Fortbewegungsmittel. Nachdem der | |
Asphalt der einzigen Küstenstraße vor wenigen Jahren erneuert wurde und | |
Leitplanken vor die Klippen geschraubt wurden, ist das ein bequemer Weg. | |
Bei nur 100 Kilometern Küste, kommt man in zwei Stunden beinahe überall | |
hin. | |
Eine Fahrt übers Land ist dagegen nichts für schwache Nerven: Telefonierend | |
und mit Zigarette im Mundwinkel überholen die FahrerInnen klappriger | |
Kleinwagen Marke Zastava in jeder Kurve. Dazu dudelt nonstop eine | |
Akkordeonmelodie im musikalischen Niemandsland zwischen Narodnjaci | |
(Volksmusik) und elektronisch gestrecktem Turbofolk. | |
## Knappes Votum | |
Von Politik hört man hier hingegen fast nichts. Im Jahr 2006 votierten die | |
600.000 MontenegrinerInnen mit knapper Mehrheit für die Unabhängigkeit. | |
Geführt wurden sie damals wie überhaupt seit 20 Jahren vom Sozialisten Milo | |
Djukanovic. Zwar ist der nicht mehr Präsident, die Fäden zieht er dennoch. | |
Ein Taxifahrer erzählt, welche Onkel, Neffen und sonstige Verwandte des | |
ehemaligen Oligarchen diese Bank und jene Firma in den Ruin getrieben | |
haben. „Die Hälfte der Montenegriner hungert“, sagt er. „Die andere Häl… | |
gehört zur Familie Djukanovic.“ Am Rückspiegel seines alten Mercedes | |
baumelt ein Duftbaum in den Umrissen Montenegros. | |
Noch dazu war die Feriensaison dieses Jahr besonders schlecht – die | |
ebenfalls verarmten SerbInnen fahren nun nach Griechenland. Die meisten | |
KüstenbewohnerInnen aber sind abhängig von ihnen, sie vermieten im Sommer | |
all ihre Zimmer, um über den Winter zu bekommen. Da nutzt es auch nichts, | |
dass russische MillionärInnen seit Jahren ganze Gebirgsstränge aufkaufen. | |
Viele sehnen sich nach dem alten Staatenverbund zurück. Vielleicht wird | |
hier deshalb an jeder Straßenecke ein jugoslawisches Kultprodukt beworben: | |
Erdnussflips der Marke Smoki zum Beispiel. Zum 40-jährigen Jubiläum gibt es | |
die in Kingsize-Größe – irgendwie lustig. „Darüber macht man keine Witze… | |
sagt aber Boris, der in Montenegro aufgewachsen ist. „Smoki hat uns über | |
die Kriege gebracht.“ | |
Tatsächlich ist es erstaunlich, dass das sozialistische Jugoslawien schon | |
in den Siebzigern Erdnussflips auf den Markt warf – ein Produkt, wie es | |
amerikanischer kaum sein konnte. Auch etliche Denkmäler, die an den | |
antifaschistischen Befreiungskampf der jugoslawischen PartisanInnen | |
erinnern – in den anderen exjugoslawischen Staaten sind sie längst durch | |
nationale Insignien ersetzt worden – stehen hier noch: Ein Tito-Zitat ziert | |
die Festung von Kotor, Stelen für die gefallenen RevolutionärInnen stehen | |
auf der Promenade von Petrovac, Partisanenbüsten in den Parks von Herceg | |
Novi. | |
Die Rückfahrt Bar–Belgrad ist wesentlich entspannter als die Hinfahrt. | |
Schaffner rauchen und übergeben an jeder Haltestelle gefüllte Tüten und | |
Umschläge an Wartende. Von draußen werden nonstop kalte Getränke nach | |
drinnen verkauft, Zollbeamte blinzeln nur müde in die Kabinen und niemand | |
verlangt die obligatorische polizeiliche Registrierung. | |
Hier nimmt es keiner so genau. Wohl auch, weil niemand an einen EU-Beitritt | |
glaubt. Beitrittsjahr 2020? Der Schaffner lacht: „Nur wenn der EU-Präsident | |
ein Schwippschwager von Djukanovic ist.“ | |
5 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Sonja Vogel | |
Sonja Vogel | |
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