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# taz.de -- Kolumne Bestellen und versenden: Arme ausgebeutete Mittelschicht
> Das Shirt „1965 Baseball Playoff“: Ist das Neokapitalismus oder
> Kommerz-Dada? Die Welt aus der Perspektive eines „Stern“-Journalisten.
Bild: Will Dieter Bohlen mit seinen Oberteilen Signale nach unten aussenden?
Hurrah, der Hauptwiderspruch ist wieder da! Die Klassenfrage stehe
plötzlich wieder „ganz oben auf der Tagesordnung“ schreibt der britische
Autor Owen Jones in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch über
„Prolls“. Um die „Dämonisierung der Arbeiterklasse“ geht es darin, und…
diesem Thema lässt sich für die deutsche Debatte durchaus ein kleiner
Diskurswechsel feststellen.
Man ist vorsichtiger geworden und lästert nicht mehr ganz so aggressiv über
die fettleibige und pornoglotzende „Unterschicht“ wie noch vor ein paar
Jahren. Vor zudringlichem Paternalismus schützt das aber nur bedingt.
Der Stern-Journalist Walter Wüllenweber meint in seinem aktuellen Buch „Die
Asozialen. Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren – und wer davon
profitiert“ immer noch genau zu wissen, wie es denen da unten geht: „In
Deutschland haben die Armen Geld genug“, schreibt er locker aus dem
Handgelenk.
In der Kommunikationstheorie nennt man so etwas
„third-person-communication“: Mit wissendem Gesichtsausdruck wird über
abwesende Dritte („die Armen“) geredet, damit man über sich selber
schweigen kann. Allerdings ist die Alternative, das Selbstgespräch, auch
nicht besser. Es klingt gemeinhin larmoyant: Wir, die arme, ausgebeutete
Mittelschicht, die immer für alle und alles zahlen muss …
## Wann ist es genug?
Erstaunlich an Wüllenwebers These ist, dass sie statische menschliche
Bedürfnisse voraussetzt, so als wäre klar, was der Mensch an materiellen
Gütern und Geld „braucht“. Schlauere Kapitalismusapologeten haben genau das
linken Konsumkritikern immer vorgehalten: Ja, sicher produziert der
Kapitalismus immer neue Bedürfnisse, aber wer soll denn bitte festlegen,
wann es genug ist?
Tatsächlich ist die Unterscheidung in echte und falsche Bedürfnisse, in
Nötiges und Unnötiges beklemmend – schon allein weil Überfluss gute Laune
macht. In Wüllenwebers Buch kehrt sie als versteckter Postmaterialismus von
oben wieder, als unausgesprochene, aber deutliche Ermahnung an die Armen:
Ihr sollt nicht begehren unsere SUVs!
Den gängelnden Charakter festgelegter Bedürfnisse haben gehätschelte
Mittelschichtkinder wie ich spätestens in der Pubertät erfahren. „Brauchst
du das wirklich?“, fragte meine Mutter durchdringend, wenn ich mir ein paar
neue New-Wave-Stiefel oder einen seinerzeit obligatorischen
Flohmarkt-Mantel wünschte.
Natürlich „brauchte“ ich nichts davon im natürlichen, vorkulturellen Sinne
wie etwa Vitamin B oder H2O. Aber ich brauchte die Anziehsachen, um – sagen
wir es ruhig im verhassten Hippiejargon – „ich zu sein“. Banal, aber wahr:
Klamotten sind Identitätsgüter, überflüssig und gerade deswegen notwendig
für ein Leben in Würde.
## Der Vintagemantel als Klassenverrat
Doch sind sie nicht einfach nur menschlich-allzumenschlich. Mit den
Kleidern, die man trägt, setzt man sich – ob gewollt oder nicht – zu
Klassenstrukturen ins Verhältnis (der Vintagemantel war mein Medium für den
symbolischen Klassenverrat an der liberalen Mittelschicht).
Dazu ein bisschen aktuelle Feldforschung: Allgegenwärtig sind schon seit
geraumer Zeit diese sportlichen Textklamotten, also Shirts, auf denen
dekontextualisierte Zeilen wie „Rallye Club 1987“ oder „Bicycle Race 1967…
stehen. Interessant daran ist, dass es sich um klassenübergreifende
Shapeshifter handelt.
Multimillionär Dieter Bohlen trägt beschriftete „Camp David“-Shirts,
während der schlecht bezahlte Arbeiter seine Teile bei Kik kauft. Unklar
ist, wer hier eigentlich wen imitiert, die Aneignungsverhältnisse bleiben
verworren. Will Dieter Bohlen mit seinen – natürlich teureren – Oberteilen
Signale nach unten aussenden („Ich bin einer von euch!“) oder wollen die
Schriftträger von der Straße ausschauen wie amerikanische
Edelsportstudenten?
Auch die Botschaft ist deutungsbedürftig. Soll die sportive Semantik von
Texten wie „1965 Baseball Playoff“ den Neokapitalismus zur sportlichen
Konkurrenz verniedlichen und gleichzeitig kommunizieren, dass der Träger
allzeit bereit zum Wettkampf ist?
## Modisches Aneignungspingpong
Oder handelt es sich schlicht um Zeichen ohne Zweck, gleichsam um
Kommerz-Dada für die Massen? Womöglich ist die Konvergenz der Stile aber
auch Ausdruck eines Harmoniebedürfnisses. Besserverdiener und Arme ohne
Geld betreiben modisches Aneignungspingpong, sie werden zu Preppies der
Unterklasse und zu Prolls der Oberschicht, um sich trotz aller
Distinktionsbedürfnisse in der kuscheligen Mitte zu treffen.
Dass wir alle Mittelschicht wären, sei eine perfide Lüge, schreibt Owen
Jones in „Prolls“. Doch es scheint, als wollten zumindest die Leute in
ihren Text-Textilien diese Lüge ästhetisch vertuschen und friedlich
Klassentreffen feiern.
13 Nov 2012
## AUTOREN
Aram Lintzel
## TAGS
Stern
Mittelschicht
Konsum
taz.gazete
Sexismus
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Kommunismus
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