Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kolumne Trends und Demut: Mythen im Orient Express
> Was macht Dinge authentisch? Über echten Qualm und falsche Vorstellungen
> von Afrika.
Vor kurzem unterhielt ich mich mit einer Dame, die mich fragte, warum junge
Frauen mit „afrikanischer Herkunft“ eigentlich nicht viel öfter Kleider und
Gewänder aus diesen knallbunt bedruckten Wachsstoffen tragen würden. Das
unterstreiche doch total ihre Identität!
Diese Stoffe sind gar nicht afrikanisch, ließ ich sie wissen. Wie, nicht
afrikanisch? Die Stoffe imitieren indonesische Batikmuster und wurden in
Holland eigens für den dortigen Markt entworfen. Tatsächlich populär wurden
sie dann aber vor allem in Westafrika. Für die Frau, die jahrelang diese
festgeformte Meinung von afrikanischer Mode mit sich herumgetragen hatte,
brach eine kleine Welt zusammen.
Mich dagegen begann die Frage zu interessieren, was authentisch sei, und ob
man Dinge nicht authentisch macht, indem man einfach nur ganz fest und
lange an diese glaubt. Die Frage tauchte wenig später wieder auf, als ich
unter der Zugbrücke in Brixton entlangging und plötzlich ein Tuten und
Rattern hörte, so stolz und tosend, als habe gerade jemand die
Dampflokomotive neu erfunden. Ich blickte hoch, und da ratterte tatsächlich
ein Zug: mit einer Dampflok, die echten (!) Qualm ausspuckte, und
antiquierten Lampen auf den Tischchen im Speisewagen.
Außen auf dem Zug prangten zwei Worte, die bei jedem zweiten Briten ein
ganzes Feuerwerk an melancholischen Erinnerungen wachrufen: „Orient
Express“. Heißt: Abenteuer, heißt: Mord, heißt: Agatha Christie!
Die Vorstellung, dass diese gut gemachte Kopie des legendären Expresszuges
mitten durch Brixton auf die alte Art in die Ferne fuhr, fand ich absurd:
Unten der One-Pound-Shop neben dem Handyladen, oben auf den Schienen das
Zelebrieren antiquierter Bildungsbürgerträume auf Schienen. Wohin die Reise
ging? Bestimmt über Paris bis nach Istanbul!
## Stereotype Vorstellungen
Meine verklärten Assoziationen wurden von einer Freundin gleich wieder im
Keim erstickt. „Die reinste Luxusbutterfahrt einer High-End-Hotelfirma
beginnt mit Shopping in London und hört zwei Tage später in Venedig auf.“
Ich dachte an die Dame mit ihren stereotypen Vorstellungen von
afrikanischen Stoffen und wie genussvoll ich diese zerschmettert hatte. Nun
war ich über meine eigenen peinlichen Klischeebilder der Wirklichkeit
gestolpert.
Gestern drückte mir in Brixton ein Aktivist ein Flugblatt in die Hand und
lenkte meine Frage nach Authentizität in eine ganz andere Richtung: Über
die Schienen, auf denen der falsche „Orient Express“ Mythen bildet, fahren
auch Castorzüge vom Atomkraftwerk Dungeness bis zur
Wiederaufbereitungsanlage Sellafield.
Das zumindest behaupteten die Atomkraftgegner. Radioaktive Strahlung,
vorbeitransportiert an Bürgern, die unter der Brücke ahnungslos ihren
Caramel-Latte schlürfen.
Brixtons Schienenverkehr zeigt, wie verkehrt die Welt doch ist. Richtig
wäre, wenn der „Orient Express“ ohne Einkaufstour bis Istanbul durchfahren
würde und die Info über den Atommüll eine Falschmeldung wäre.
26 Nov 2012
## AUTOREN
Julia Grosse
Julia Grosse
## TAGS
taz.gazete
Afrika
London
taz.gazete
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kolumne Trends und Demut: Sauerkraut im Küchentuch
Die Brixton Academy ist eine Oase der wiedervereinten Rocker, Rapper und
Rowdies. Allein David Bowie gelingt ein eleganter Tanz um die
Eitelkeitsfalle herum.
Kolumne Trends und Demut: Organisierte Fressmeile
Der Brixton Market war der gelungene alternative Lebensentwurf. Genau das
hat ihn zerstört. Denn was schön ist in London, wird auch verkauft.
Kolumne Trends und Demut: Zion im explodierenden Damenrock
Vom Maskottchen bis zum weltgrößten McDonald’s auf dem Areal ist alles
böse! Böse! Böse! Warum sich einige Briten vor Olympia fürchten.
Trends und Demut: Ein trauriges Scheuerspektakel
Beißend scharfes Scheuermittel: Der Olympia-Sponsor und
Waschmittelhersteller Procter & Gamble ruft die Londoner dazu auf, ihre
Stadt für Olympia sauber zu schrubben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.