# taz.de -- Kolumne Trends und Demut: Organisierte Fressmeile | |
> Der Brixton Market war der gelungene alternative Lebensentwurf. Genau das | |
> hat ihn zerstört. Denn was schön ist in London, wird auch verkauft. | |
Henri Lefèbvre wäre doch auch darauf reingefallen! Als junge Theater- und | |
Künstlergruppen vor anderthalb Jahren im hinteren Teil des Londoner Brixton | |
Market begannen, leer stehende Räume zu nutzen, empfand ich das als | |
kreative Urbanität in ihrer reinsten Form. | |
Die von Glas überdachten Arkaden, unter denen seit Jahrzehnten einer der | |
größten karibischen Märkte in Europa stattfindet, sind seit Jahrzehnten ein | |
Lehrstück in Flexibilität, die hier auf engstem Raum praktiziert wird: Ein | |
Shop mit nigerianischen Liebesfilmen hat die Größe einer halben | |
Telefonzelle, und im indischen Haushaltsladen kommen auch noch ein | |
Handyanbieter und ein Nagelstudio unter. | |
Innerhalb dieses fließenden Mikrokosmos fanden die Projekte der jungen | |
Kulturproduzenten perfekt ihren Platz, es entstand eine kostbare | |
Gemeinschaft, jenseits von Klassen, Religionszugehörigkeit, von kulturellen | |
Szenen oder Altersgruppen: Kunststudenten in ihrem Projektraum verstanden | |
sich prächtig mit der Senegalesin im Gewürzladen nebenan. Und der | |
alteingesessene britische Fischhändler mit Ohrring und Glatze kam bestens | |
aus mit der Artistikgruppe, die nebenher Buchweizen-Crêpes servierte. Hier | |
lebte eine alternative Ökonomie, die keine Labels braucht, keine | |
Filialleiter und perfekt designte Corporate-Identities. | |
Ich schwärmte jedem von diesem zarten, kostbaren Schwebezustand des Marktes | |
vor, ein freies Experiment, dessen Ausgang man nicht kannte. Total naiv! | |
Natürlich kannte man den Ausgang! Denn alles, was mit kostbarem | |
Kulturkapital aufgeladen wird, finden früher oder später natürlich auch | |
Finanzexperten und „Foodies“ spannend, die nun verzückt den Brixton Market | |
betreten, weil sie vom bunten Treiben im Guardian oder der FT gelesen | |
haben. | |
Die Artistik- und Künstlergruppen, die zu Beginn des Ganzen die Illusion | |
hatten, der Raum gehöre ihnen, haben sich entweder aufgelöst oder arbeiten | |
irgendwo am Rande der Stadt. Ihr Experiment legte unbeabsichtigt den | |
Grundstein für einen flexiblen Kapitalismus, der den Markt quasi über Nacht | |
in eine perfekt durchorganisierte Fressmeile aus coolem Japaner neben | |
Alternativ-Italiener neben Bio-made-in-Britian-Imbiss verwandelt hat. Und | |
ab und zu spielt sogar eine total talentierte Liveband. Junge karibische | |
Restaurants sucht man hier übrigens vergebens | |
Ursprüngliche Abrisspläne dieses hinteren Teils des Marktes wurden rasant | |
durch wöchentlich steigende Mieten ersetzt. Die heutigen Ladenbesitzer sind | |
meinungslose Junggastronomen, die nicht verstehen (wollen), dass das | |
lustige Lebensgefühl, in dem sie ihr Biogemüse dünsten, auf einer prekären | |
Basis entstand, die weder an Umsätze gedacht hat noch an | |
Tischreservierungen oder positive Besprechungen in Lifestyle-Magazinen. | |
Eine meiner Lieblingsadressen der ersten Stunde war ein winziger | |
Tante-Emma-Laden, betrieben von einer jungen Afrobritin. Brausebonbons | |
kosteten bei ihr 5 Pence. „Ich genieße diese Gleichzeitigkeit verschiedener | |
Leute und Konzepte“, hatte sie damals gesagt. „Für uns alle ist es ein | |
tolles Experiment. Ich bin gespannt, wie es ausgeht!“ Ihr Laden steht seit | |
vergangener Woche leer. Lush oder American Apparel könnten also direkt | |
einziehen. | |
28 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Julia Grosse | |
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