Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Ostdeutscher Lokalpatriotismus: Komm, mein Sachse, bleib!
> Nur Billiglöhne, aber dafür das schönste Wetter der Welt: Weil die Jugend
> wegzieht, schwelgt die ostdeutsche Politik im Lokalpatriotismus.
Bild: Land unter, aber idyllisch: Elbhochwasser 2002 bei Magdeburg (Sachsen-Anh…
„Unsere Heimat – unser Wetter!“ Die magisch geraunte Formel vor jedem
Wetterbericht im MDR-Fernsehen ist bislang der albernste Höhepunkt einer
von niemandem offiziell inszenierten und dennoch unübersehbaren Heimatwelle
Ost. Selbstverständlich kann unser Wetter in unserer Heimat nur das
schönste auf der Welt sein. Aber warum wird Heimatliebe vor allem in
Sachsen in zunehmender Penetranz proklamiert?
Publikationen, Ausstellungen, ein Heimatliederabend des Ex-DDR-Barden
Stephan Krawczyk an den Landesbühnen Sachsen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung
redet den ganzen Herbst über nichts anderes. Uwe Tellkamp, preisgekrönter
Autor des Ossi-Versteherromans „Der Turm“, schwelgt als Landtagsfestredner
zum Einheitstag im süßen sächsischen Gestern. An selber Stelle startet
später eine von der schwarz-gelben Regierungskoalition beantragte, geradezu
kindische Heimatstunde. Auch SPD-Abgeordnete diskutieren in ihren
Wahlkreisen.
Wer unter dem Stichwort „Heimat“ im Netz forscht, stößt in
wissenschaftlichen Beiträgen schnell auf die Formulierung „anthropologische
Konstante“. Regionale Heimatverbundenheit gilt als Teil eines
Grundbedürfnisses nach Sicherheit und Geborgenheit. Wenn man will, kann man
dieses wiederum mit Liebestheorien Erich Fromms erklären, dem Dauertrauma
der Getrenntheit des Menschen. Der Unbehauste, der Abgenabelte, der
Vertriebene aus dem Paradies, sucht nach neuer Harmonie mit Mensch und
Natur.
## Sehnsucht nach dem Idyll
Aber dieses Plätzchen ist nie sicher. Heimat kann zur Fremde werden. Man
muss nur mit Flüchtlingen über die Unerträglichkeit der Verhältnisse an den
Orten ihrer Herkunft reden. Das Nomadisieren gehört keineswegs überwundenen
historischen Epochen an. Radikaler Ökonomismus kollidiert zudem mit
hinderlichen individuellen Bindungen. Das wusste man schon vor den
Entwurzelungstheorien infolge der modernen Globalisierung.
„Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen,
patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört“, schrieben Marx und
Engels im Kommunistischen Manifest von 1848. Die im 19. Jahrhundert
aufkommende typisch deutsche Heimattümelei war der Versuch einer Antwort
darauf. Die Sehnsucht nach dem Idyll bleibt, sie öffnet aber zugleich dem
Missbrauch des Heimatbegriffs die Tür.
Im milderen ostdeutschen Fall meint das seine Instrumentalisierung. Anlass
für die erwähnte sächsische Landtagsdebatte war eine Jugendumfrage der
Dresdener Staatsregierung. Die verspürte offenbar Vergewisserungsbedarf
über „ihre“ Jugend, denn parallel veranstaltete sie auch gleich ein
Jugendfestival, bei dem mit Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) und
zwei Ministerinnen diskutiert werden durfte.
Laut Umfrage sehen nur 45 Prozent dieser Jugendlichen die Rahmenbedingungen
für die Verwirklichung ihrer Lebensziele in Sachsen als gut an. Diese
alarmierende Zahl liefert das plausibelste Erklärungsmuster für die
Wiederentdeckung von Heimat – vor dem Hintergrund des bereits spürbaren
Fachkräftebedarfs dürfte sie ganz rationale und pragmatische Gründe haben.
Wissenschaft und Forschung reden offen vom Kampf um die besten Köpfe, um
Lehrer wird jetzt schon bundesweit konkurriert.
## Wettlauf um die Jugend
Vor allem zeichnet sich ein Kampf um die knappe Ressource Jugend ab. Denn
die erweist sich überwiegend als zeitgeistig mobil und entscheidet
Lebenswege nach Attraktivitätskriterien. Die Gültigkeit von Ciceros „Ubi
bene, ibi patria“ („Wo es mir gut geht, ist meine Heimat“) bekräftigten
O-Töne Jugendlicher auch beim Jugendfestival. „Nur wenn die Schul-und
Hochschulabsolventen in Sachsen eine berufliche Perspektive haben, werden
sie auch hier bleiben“, erkannte sogar der FDP-Debattenredner Benjamin
Karabinski im Landtag.
In diesem Wettlauf aber haben Sachsen und andere ostdeutsche
Niedriglohnländer schlechte Karten. Hinzu kommen die schrumpfenden
öffentlichen Haushalte und die damit verbundenen Probleme bei der Bildungs-
oder Jugendhilfefinanzierung. Die momentane konjunkturbedingte Erholung und
der erstmals sogar leicht positive Wanderungssaldo in Sachsen dürften nicht
von Dauer sein. Das erwartete Manko müssen Beschwörungen des irrationalen
Heimatfaktors ausgleichen, mehr gefühlt als strategisch geplant. „Jede und
jeder wird bei uns gebraucht“, mahnt Sachsens Sozialministerin Christine
Clauß.
## Land der Frühaufsteher
Solche Appelle an irrationale Hierbleibefaktoren sind nicht neu. Gewesene
DDR-Bürger können heute noch Manfred Streubels Naturforscherlied „Die
Heimat hat sich schön gemacht“ singen, das Schulfach Heimatkunde hatte
einen ganz anderen Klang als „Regionalgeschichte“ heute. In der großen
Westabwanderungswelle der Neunziger beförderte Ministerpräsident Kurt
Biedenkopf kräftig den Sachsenmythos: Ihr werdet hier zwar nicht reich,
aber dafür habt ihr den unbesiegbaren Sachsenstolz. Angesichts einer
aussichtslosen Angleichung an den Westen, die der jüngste
„Fortschrittsbericht Aufbau Ost“ wieder bestätigte, spotten nun linke
Kreise schon über „80 Prozent Westlohn und 20 Prozent Heimatliebe“.
Das Vertrauen in Heimatliebe als Surrogat scheint indessen labil zu sein,
sodass immer wieder mit Heimatkonstruktionen nachgeholfen werden muss. Auch
Sachsen-Anhalt mit seiner grotesken Imagekampagne als Land der
Frühaufsteher gibt dafür ein weiteres Beispiel. Ende der neunziger Jahre
untersuchte ein Sonderforschungsbereich „Regionenbezogene
Identifikationsprozesse“ an der Leipziger Universität, wie Regionen aus
politischem oder wirtschaftlichem Interesse regelrecht „gemacht“ werden.
Bodenständigkeitsappelle an die umworbene Generation aber verfangen in
Zeiten hybrider Kulturen weniger. Vertrautheitsgefühle sind zunehmend an
Sozialkontakte gebunden, werden eher als Menschen- denn als Ortsbindung
wahrgenommen. Oder gelangen wir doch an einen Punkt, wo Mobilität und
Flexibilität unsere anthropologischen Konstanten überfordern?
15 Dec 2012
## AUTOREN
Michael Bartsch
Michael Bartsch
## TAGS
Billiglohn
Sachsen-Anhalt
Sachsen
Schwerpunkt Ostdeutschland
DDR
Sachsen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ossi-Studie: Setzen, sechs
Eine dubiose Studie an der Universität Leipzig sieht die Ostdeutschen als
„symbolische Ausländer“. Haltbar ist die These allerdings nicht.
Sachsen-WG auf Bild.de: Unerträglich dämlich
Zwischen „Big Brother“ und Doku-Soap: Mit der „Sachsen-WG“ will „Bild…
Leser im Netz gewinnen – ein Versuch, auf die Printkrise zu reagieren.
Geförderte Demokratietrainings: Auch im Westen brennt's
Bisher zielte ein Bundesprogramm, das Demokratietrainings anbietet, nur auf
Ostdeutschland. Nun soll es auch auf den Westen ausgedehnt werden.
Junge Ostdeutsche im Bundestag: Thierses Erben
Diana Golze, Daniela Kolbe und Tankred Schipanski haben verschiedene
Parteibücher, aber eins gemein: Sie sind junge Ostdeutsche im Bundestag.
Umfrage unter westdeutschen Schülern: Studieren in Fernost
Die Mauer in den Köpfen ist noch da – auch bei jungen Leuten. Nur 13
Prozent der westdeutschen Schüler und Abiturienten wollen für ein Studium
nach Ostdeutschland.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.