# taz.de -- Neues Album von Tocotronic: Als die rechte Hand eliminiert wurde | |
> „Wie wir leben wollen“ heißt das neue Album von Tocotronic. Es ist ein | |
> Rundum-Sorgenfalten-Paket der Schattenseite des Lebens. | |
Bild: Wo andere Stärke markieren, huldigen sie lieber der Schwäche: Tocotronic | |
„Im Keller“ steht an Platz zwei der 99 Thesen, die Tocotronic ihrem neuen | |
Album vorangestellt haben. Diese 99 Thesen fassen einzelne Schlagworte aus | |
den Texten der 17 Songs zusammen. Platz drei bleibt „Auf dem Grund des | |
Swimmingpools“ reserviert, „Chloroformiert“ liegt auf der Acht, „Unter … | |
Sand“ auf der Zehn. | |
Ganz schön abseitige Schlagworte für ein Album, das „Wie wir leben wollen“ | |
heißt, finden Sie nicht? Als Frage stellen Tocotronic das Wie im Titel auch | |
gar nicht. Sie lösen für dieses existenzialistische Puzzle alle Abgründe | |
des Daseins mit auf, erklären sie vom Unterbewusstsein her, sozusagen als | |
Rundum-Sorgenfalten-Paket der Schattenseite des Lebens. | |
Dieser Groschen fällt aber erst später. Zunächst bleibt Tocotronic eine | |
Band in der archetypischen Rockbesetzung Gesang, zwei Gitarren, Bass und | |
Schlagzeug. Der Gesang Dirk von Lowtzows ist präsent wie eh und je. Aber | |
endlich einmal haben sich Tocotronic drumherum ein gewagteres Soundgewand | |
verpassen lassen, ihrem Produzenten Moses Schneider sei Dank. | |
## Aufnahmen mit Vintage-Equipment | |
Aufgenommen wurde „Wie wir leben wollen“ in einem Studio am ehemaligen | |
Berliner Flughafen Tempelhof, das mit Vintage-Equipment ausgestattet ist, | |
auf einer alten Vierspurbandmaschine, verlängert mit Hallgeräten, die aus | |
weit zurückliegenden Pop-Epochen stammen. Gemixt wurde auf einem | |
9-Kanal-Mischpult Marke Deutsche Grammophon. | |
„Wir mussten daher bereits vor der Aufnahme eine Soundarchitektur | |
erstellen“, erklärt Tocotronic-Sänger und -Gitarrist Dirk von Lowtzow im | |
Interview. „Unsere Instrumente hatten jeweils nur eine Spur zur Verfügung, | |
dieses Klangbild blieb das Gerüst der Aufnahme. Bei früheren Alben haben | |
wir quasi live aufgenommen und den Raum als Instrument genutzt. Da lehnten | |
wir uns an die Unmittelbarkeit der Bühnen-Situation an, was uns sinnvoll | |
erschien, auch weil es mit dem gewachsenen Stellenwert von Konzerten | |
korrespondiert hat. Diesmal haben wir den Raum durch viele Overdubs | |
ersetzt.“ | |
So ist eine Wall of Sound aufgetürmt, deren Wucht Tocotronic hörbar | |
wohltut. Sie hat den Musikern in puncto Songwriting und Arrangement zu | |
größerer Finesse und damit zu mehr künstlerischer Freiheit verholfen. Zu | |
fantastisch mäandernden Songs und Hooklines, die im Gedächtnis hängen | |
bleiben wie Flusen in einem Sieb, und zu einem gigantischen Hall, der Musik | |
und Texte in Watte packt. Ähnlich dem entrückten Shoegaze-Entwurf der | |
britischen Stone Roses auf ihrem Debütalbum oder den Feedback-Loops von My | |
Bloody Valentine. | |
„Wie wir leben wollen“ entwickelt Dialektik aus Wärme und Distanz, die von | |
den Texten und ihrer Mischung aus Apokalypse und Zärtlichkeit | |
weitertransportiert wird. | |
## Spiel mit Sprache | |
„Ich will täglich anders heißen / Alle Preise sollen winken / Ich will im | |
Swimmingpool ertrinken“ („Auf dem Pfad der Dämmerung“). Von Lowtzow sagt, | |
beim Songwriting interessiere ihn das Spannungsverhältnis aus Konvention | |
und der Ausweitung selbiger. Wenn er an einem Text herumpuzzelt, soll er | |
auch aufgehen. Für „Wie wir leben wollen“ ist sein Spiel mit Sprache freier | |
geworden und zugleich konziser. | |
Von Lowtzow spielt mit dem Glamour und der Unsterblichkeit von Stars, | |
inszeniert Showbusiness als Hindernisrennen. „Im Keller wartet schon die | |
Version / die mich dann ersetzt / Wenn man sie wachsen lässt“ („Im | |
Keller“). Er macht sich Gedanken über Viren, die sich in Körpern | |
eingenistet haben, um die tägliche Dosis Koma, auf die sein Text-Ich der | |
Liebe wegen verzichten möchte. „Ich will high sein und doch / Auf dem Boden | |
kleben“ („Ich will für dich nüchtern bleiben“). | |
Zum unverwechselbaren Klangbild kam die Band durch eine Reduktion. „Mit | |
meiner rechten Hand schreibe ich alle Texte und mit ihr spielte ich bis | |
jetzt diese Schrammel-Riffs. Ihre Bewegung nahm auch das Schlagzeug auf. | |
Diesmal haben wir meine rechte Hand aus dem Sound eliminiert“, erklärt von | |
Lowtzow. Und das hat sich gelohnt, denn so unbehaust seine Ichs und Wirs in | |
den Texten von „Wie wir leben wollen“ erscheinen, Gitarren, Drums und Bass | |
sitzen nun immer am richtigen Platz. | |
Gitarrist Rick McPhail bestätigt: „Wir haben zum ersten Mal mit akustischen | |
Gitarren gearbeitet und mit einer anderen Stimmung, National Tuning. Dirks | |
Gitarre spielt jeweils eine Oktave höher. Alle Klangelemente sind so | |
geschichtet, dass jeder von uns einen Frequenzbereich hat.“ | |
## Selbstkritischer und ironischer | |
Für von Lowtzows Texte entstand mehr Gestaltungsraum. Sie sind | |
selbstkritischer und ironischer geworden. „So komme ich mir auch vor“, sagt | |
der Sänger. „Die Texte werden von uns lektoriert, aber in der Grundanlage | |
ging es bei den 17 Songs des Albums stärker um mich. Wie lässt sich das Ich | |
verhandeln? Wie kann ich von mir erzählen, ohne die Leute zu belästigen?“ | |
Bei „Chloroform“ beispielsweise, das gemütlich countryesk mit Tamburin und | |
Pedal-Steel-Gitarre stampft, und rückwärtslaufenden Instrumenten-Spuren | |
deklamiert von Lowtzow wie eine halbwache Figur aus einem | |
J.-G.-Ballard-Roman „Sei meine Vertretung / Werde verantwortlich / Geliebte | |
Unterbietung / Zensiere mich“. | |
Eher hysterisch chansonesk dagegen „Vulgäre Verse“, bei dem er sich, | |
während Schlagzeuger Arne Zank gleichmäßig im Dreivierteltakt rudert, um | |
Kopf und Kragen singt. „Als lebender Leichnam glaub ich daran / The Show | |
must go on.“ Diese Fixierung setzt sich in dem von Stephanie von Beauvais | |
inszenierten Videoclip von „Auf dem Pfad der Dämmerung“ fort: Ein Mädchen | |
wehrt sich gegen Vampire, die es an einer Oberschule aussaugen wollen. | |
## Tocotronic hängen am Leben | |
„Der Tod rückt näher. Wir werden älter“, erklärt von Lowtzow zur | |
Todesthematik, die in sechs der 17 Songs auftaucht. Tocotronic hängen am | |
Leben. „Durch Leidensgeschichten von Angehörigen wird man mit so was | |
konfrontiert. Daher ist ,Wie wir leben wollen‘ ein totales Undergroundalbum | |
geworden, wir sind für unsere Songs im wahrsten Sinne unter die Erde | |
gegangen.“ Showbusiness als Bühne für Untotes: Tocotronic scheinen in einem | |
Zwischenreich leben zu wollen. Wo andere Stärke markieren, huldigen sie | |
lieber der Schwäche, fühlen sich weder Mainstream noch Untergrund | |
zugehörig. | |
„Ich finde es künstlerisch wichtig, dass wir bei Festivals wie Rock am Ring | |
vorkommen, obwohl mir das Berliner Hebbel-Theater persönlich näher liegt. | |
Finanziell können wir es uns als Band gar nicht leisten, zu Rock am Ring | |
Nein zu sagen“, sagt Dirk von Lowtzow. Aber er dreht die Perspektive vom | |
weißen rockenden Mann im Song „Exil“ lieber um. „Ich bin ein weißer | |
heterosexueller Mann / Du kannst mich abschieben, wenn du willst.“ | |
In welcher Form kommen Tocotronic dann zurück von ihrem Ausflug unter die | |
Erde? Platz eins der 99 Tocotronic-Thesen von „Wie wir leben wollen“ | |
gebührt „Als Zeichentrickgestalten“. | |
19 Jan 2013 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
Julian Weber | |
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