# taz.de -- Mark Twains Autobiografie: Erzählen zum Zeitvertreib | |
> Auf Mark Twains Autobiografie mussten die Leser 100 Jahre warten – so | |
> wollte es der Schriftsteller. Nun ist der erste von drei Teilen | |
> erschienen. | |
Bild: Der Berliner Künstler Atak hat Mark Twains Roman „Der geheimnisvolle F… | |
Mark Twain hatte bereits mehrere Versuche unternommen, seine Autobiografie | |
„auf die eine oder andere Weise mit der Feder zu schreiben“. Die Resultate | |
befriedigten ihn jedoch nicht – „zu literarisch“. | |
Eine „Erzählung sollte fließen, so wie ein Bach durch Hügel und | |
Laubwälder“, aber „mit der Feder in der Hand ist der Erzählfluss ein Kana… | |
er bewegt sich langsam, ruhig, schicklich, schläfrig, hat keinen Makel | |
außer dem, dass er der Makel ist.“ Er sei „zu spröde, zu gewissenhaft; | |
Tempo, Stil und Bewegung eignen sich nicht zum Erzählen.“ | |
Merkwürdige Behauptungen für einen Prosaschriftsteller, der mit Recht vor | |
allem für seinen liquiden Stil und seine Leichtigkeit gerühmt wird und der | |
zu diesem Zeitpunkt, Anfang des 20. Jahrhunderts, längst zu den | |
meistgelesenen Autoren der Welt gehörte. | |
Aber hier ging es ihm um mehr. Autobiografisch fundierte Erzählungen hatte | |
er bereits genug publiziert. Sie hatten seinen Ruhm begründet, „Tom | |
Sawyer“, „Huckleberry Finn“, „Leben auf dem Mississippi“ und nicht zu… | |
die unzähligen Zeitungsgeschichten. | |
## Über 5.000 Manusrikptseiten | |
Jetzt am Ende seines Lebens, seine Frau Livy hatte er bereits zwei Jahre | |
zuvor begraben, ging es ihm um so etwas wie „Wahrhaftigkeit“ und die sollte | |
in eine andere Form gegossen werden. | |
„Beginne an einem beliebigen Zeitpunkt deines Lebens; durchwandre dein | |
Leben, wie du lustig bist; rede nur über das, was dich im Augenblick | |
interessiert, lass das Thema fallen, sobald dein Interesse zu erlahmen | |
droht; und bring das Gespräch auf die neuere und interessantere Sache, die | |
sich dir inzwischen aufgedrängt hat.“ Und er meinte tatsächlich „rede“, | |
also mündliches Erzählen, die archaischen Ursprünge der Narration. | |
Das war der Durchbruch in seinem Autobiografie-Projekt. Erst jetzt nämlich, | |
als ihn allmorgendlich sein späterer Biograf und Nachlassverwalter Albert | |
Bigelow Paine in Begleitung der erfahrenen Stenografin Josephine Hobby | |
besuchte, um ihn gesprächsweise aus der Reserve zu locken und das alles in | |
statu nascendi mitzuschreiben, kam er von der Stelle. | |
Miss Hobby – das hobby horse (Steckenpferd), wenn sie wieder mal etwas zu | |
pedantisch die orale Diktion ins Standardenglische übersetzte – war noch | |
dazu ziemlich schnell an der Schreibmaschine. | |
Das schaffte was. Mehr als 5.000 Manuskriptseiten in drei Jahren. Und so | |
konnte er im Vorwort schwärmen, er habe „den richtigen Plan gefunden. Er | |
macht meine Arbeit zu einem Vergnügen – zu einem reinen Vergnügen, einem | |
Spiel, einem Zeitvertreib, und das ganz und gar mühelos. Zum ersten Mal in | |
der Geschichte ist jemand auf den richtigen Plan verfallen.“ | |
## Vorbild für zukünftige Autobiografen | |
Man weiß bei diesem Ironiker ja nie so genau, aber das meinte er wohl | |
tatsächlich ernst: „zum ersten Mal in der Geschichte“! Späterhin, als der | |
Erzählmotor bereits richtig rund läuft, stößt er noch einmal in das gleiche | |
Horn. | |
„Ich beabsichtige, dass diese Autobiographie, wenn sie nach meinem Tod | |
veröffentlicht wird, als Vorbild für alle zukünftigen Autobiographien | |
dient, und ich beabsichtige, dass sie viele Jahrhunderte lang gelesen und | |
bewundert wird dank ihrer Form und ihrer Methode“. | |
„Ich bin nur daran interessiert, draufloszuschwatzen und nach Belieben | |
abzuschweifen, ohne Rücksicht auf das Ergebnis für den künftigen Leser. | |
Folglich haben wir hier eine Kombination aus Tagebuch und Geschichte; denn | |
sobald ich von dem vorliegenden Text – dem heutigen Gedanken – abschweife, | |
führt mich die Abschweifung über ein unerforschtes Meer der Erinnerung, und | |
das Resultat ist Geschichte.“ | |
So entsteht eine Bricolage, die auch fremde Texte, aktuelle Lektürefrüchte, | |
Zeitungsartikel, Briefe und nicht zuletzt die von seiner Lieblingstochter | |
Susy begonnene Mark-Twain-Biografie integriert. Das liest sich in seiner | |
ausgestellten fragmentarischen Unfertigkeit durchaus modern – und ist es | |
auch programmatisch. Diese Autobiografie kapituliert eingestandenermaßen | |
vor dem Anspruch, ein Menschenleben irgendwie angemessen zwischen zwei | |
Buchdeckel pressen zu können. Und in einem geschlossenen, bruchlosen | |
Erzähltext schon gleich gar nicht. | |
## Scham und Eitelkeit | |
Modern ist aber auch die Zumutung dieses am Ende drei Bände und mehrere | |
tausend Seiten umfassenden, vom Hölzchen aufs Stöckchen kommenden, auch und | |
vor allem die „alltäglichen Ereignisse“ dokumentierenden Textes. Er lässt | |
sich von einem Durchschnittsleser kaum mehr bewältigen. Und der Autor | |
scheint das Scheitern des Lesers bereits mit einzukalkulieren, will | |
zumindest auf ihn keine Rücksicht mehr nehmen. | |
Auch deshalb – und weil er sich und die Lebenden vor seinem völlig | |
unverstellten Urteil schützen will – sollte die Autobiografie erst hundert | |
Jahre nach seinem Tod in Buchform erscheinen. Entschärften | |
Zeitschriftenveröffentlichungen allerdings stimmte Mark Twain zu, weil er | |
sich selbst ziemlich begeistern konnte für seine Diktate. | |
Aber trotz dieser Vorsichtsmaßnahme, der postumen Publikation, muss er sich | |
später eingestehen, dass er an der intendierten „Wahrhaftigkeit“ | |
gescheitert ist. Es sind eben nicht nur die Mitmenschen, die einer | |
Selbstzensur Vorschub leisten, es ist vor allem Scham und die eigene | |
Eitelkeit, die den Autobiografen das eigene Leben größer und besser machen | |
lassen, als es tatsächlich war. | |
„Seit drei Monaten diktiere ich nun täglich Teile meine Autobiographie“, | |
räumt er irgendwann ein, „mir sind schon fünfzehnhundert oder zweitausend | |
Ereignisse in meinem Leben eingefallen, derer ich mich schäme, aber bisher | |
hat sich noch kein einziges davon zu Papier bringen lassen. Ich denke, | |
dieser Vorrat wird immer noch vollständig und unvermindert sein, wenn ich | |
diese Memoiren abgeschlossen habe, falls das je der Fall sein wird.“ | |
## Ein begnadeter Menschenzeichner | |
Dass sich spätere Herausgeber wie Paine nicht an das Testament hielten und | |
bald nach seinem Ableben Teilausgaben veröffentlichten, gehört zu den | |
editionsphilologischen Quisquilien, die in aller Ausführlichkeit im Beiband | |
dargestellt werden und nur den Twain-Forscher interessieren. | |
Mittlerweile gibt es andere, angemessenere Formen des Publizierens | |
historisch-kritischer Ausgaben. Den Text als Prachtband fürs Regal, den | |
wissenschaftlichen Apparat ab ins Netz, wo er hingehört. Als bloßer | |
Genussleser braucht man dieses zusätzliche Buch nicht. | |
Man darf sich sogar fragen, ob man die vollständige Ausgabe, die nun auch | |
erst zu einem Drittel vorliegt, wirklich braucht, ob man mit den bisherigen | |
Auswahlausgaben nicht ganz zufrieden sein konnte. Dass Twain ein | |
geistreicher Causeur, eine Pointenschleuder mit enormer Trefferquote, ein | |
begnadeter Menschenzeichner und empathischer Humanist war, dessen gerechter | |
Zorn angesichts der Zumutungen dieser Welt in beißenden Sarkasmus umschlug, | |
zeigt sich hier einmal mehr. | |
## Langweilige Passagen | |
Aber die besten Stellen kannte man schon. Etwa die herzzerreißende Anekdote | |
über den Sklavenjungen Sandy, der den kleinen Sam Clemens, wie Twain mit | |
echtem Namen hieß, mit seinem ewigen Gesang nervt. Schließlich beschwert er | |
sich bei seiner Mutter. | |
„Da traten ihr Tränen in die Augen, ihre Lippe zitterte, und sie sagte etwa | |
Folgendes: ,Der arme Kerl, wenn er singt, heißt das, dass er sich nicht | |
erinnert, und das tröstet mich; aber wenn er schweigt, fürchte ich, dass er | |
nachdenkt, und das kann ich nicht ertragen. Er wird seine Mutter niemals | |
wiedersehen; wenn er singt, darf ich ihn nicht daran hindern, sondern muss | |
dankbar dafür sein. Wenn du älter wärst, würdest du mich verstehen; dann | |
würde dich der Lärm eines Kindes ohne Freunde froh stimmen.‘ Es war eine | |
schlichte Rede, und sie bestand nur aus kleinen Worten, aber sie traf den | |
Kern, und Sandys Lärm beunruhigte mich nicht mehr.“ | |
„Man braucht nicht jedes Wort dieses alten Buchs zu lesen. Es gibt | |
langweilige Stellen darin. Aber wer nie in das Buch hineingeblickt hat“, | |
versäume eben doch etwas, hat John Cowper Powys über Cervantes’ „Don | |
Quijote“ geschrieben. Und das gilt wohl auch für Mark Twains „Geheime | |
Autobiographie“. Außerdem muss man einem Autor von Rang wenigstens einmal | |
die Ehre erweisen, sein Werk in der Form zu veröffentlichen, die ihm selbst | |
vorschwebte. Was bei Karl May recht war, sollte bei Mark Twain billig sein. | |
5 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Frank Schäfer | |
## TAGS | |
Autobiografie | |
Kinderbuch | |
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