| # taz.de -- Debatte Doping im Radsport: Im Zweifel fürs Spektakel | |
| > Höher, schneller, weiter – Radfahrern wird immer mehr Leistung abverlangt | |
| > und alles ohne unfaire Mittel. Die Geschichte zeigt aber, das eine geht | |
| > nicht ohne das andere. | |
| Bild: Bis an die Grenze der Grimmigkeit gedopt: Lance Armstrong. | |
| Radfahrer sind von jeher Trendsetter gewesen. Sie beherrschten schon die | |
| Kunst der Selbstoptimierung, als es noch keine Pharmakonzerne, Yogakurse | |
| und Laufbewegungen gab. Seit über 100 Jahren wird in der Szene ausprobiert, | |
| was Radler schneller macht. | |
| Anfangs waren das meist Aufputschmittel, Alkohol oder Kokain. Später wurde | |
| es ausgeklügelter, Hormone der Nebennierenrinde und der Hirnanhangsdrüse | |
| wurden gespritzt. Nahezu jedes neue Medikament wird auf Verwertbarkeit | |
| geprüft. Hilft es, wird es in den Kanon der Fitmacher aufgenommen. Das geht | |
| eine Zeit lang gut. Dann werden die Mittel verboten. Der Selbstoptimierung | |
| der Radler, der Leistungssportler allgemein werden Grenzen gesetzt, während | |
| der Rest der Gesellschaft seinen Körper ohne größere Verbote aufmöbeln | |
| darf. Gegen den Trend der Medikalisierung der Gesellschaft müssen | |
| Spitzensportler Meister der Enthaltsamkeit sein. | |
| Ist das ungerecht? Irgendwie schon, weil der Sport, und das ist wohl seit | |
| den Griechen so, einen grotesken moralischen Überbau verpasst bekommen hat. | |
| Die Athleten müssen sich, so lautet das Verdikt, in einem fairen Wettkampf | |
| unter gleichen Voraussetzungen messen. Der Stärkere, Schnellere, kurzum: | |
| der Bessere gewinnt. Alles Unfaire und Unnatürliche ist in dieser Sphäre | |
| des – theoretisch – Hochmoralischen verboten. | |
| Leistungssportler, lebten sie wirklich nach diesen strengen Geboten, | |
| müssten quasi höhere, erleuchtete Wesen sein, denn von ihnen wird nicht nur | |
| verlangt, geradezu menschenunmögliche Leistungen wie auf einer dreiwöchigen | |
| Rundfahrt zu erbringen, nein, sie müssen diese Tortur auch noch ohne | |
| hilfreiche Substanzen durchstehen. | |
| ## Saubere und moralische Supermänner | |
| Sie müssen sauber und moralische Supermänner sein, Schmerzensmenschen, die | |
| trotz der Qualen immer nur zu Wasser und Brot greifen, obwohl auf dem | |
| Buffet noch ganz andere Sachen feilgeboten werden: Epo, Kortison, | |
| Blutbeutel, Testosteron und Wachstumshormone. Welcher Hochleistungssportler | |
| hört ihn nicht, den Sirenengesang der Selbstoptimierer? | |
| Sportmediziner locken mit ihren Mitteln und Methoden. Masseure offerieren | |
| geheimnisvolle Cocktails. Kollegen im Team wissen, wie man mit ein paar | |
| Pillen schneller wird. Funktionäre schreien Höher-schneller-weiter und | |
| fordern Goldmedaillen sonder Zahl. Und der Manager warnt in eindringlichen | |
| Worten davor, dass sich das Zeitfenster des schnellen Geldes im Sport ganz | |
| schnell schließe. Wer da nicht dopt, ist selber schuld – oder ein echter | |
| moralischer Überflieger wie der ehemalige irische Radprofi Paul Kimmage, | |
| der schon bei der Einnahme von Vitaminen ein schlechtes Gewissen bekam. | |
| Kimmage ist die Ausnahme, der Betrug die Regel. | |
| ## 100-jährige Betrugskultur | |
| Der Radsport, diese besonders anfällige Disziplin, hat den hohen Ansprüchen | |
| nie genügen können. Er ist immer den Verlockungen, den Erleichterungen | |
| erlegen. Man hat zu „unterstützenden Mitteln“ gegriffen. Man hat die | |
| Öffentlichkeit beschissen. Man hat gelogen und die Deppen außerhalb des | |
| Radsportsystems glauben lassen, hier ginge alles mit rechten Dingen zu. Es | |
| gibt im Radsport eine mindestens 100-jährige Kultur des Betrugs, und es | |
| liegt nahe zu behaupten, dass es auch in 100 Jahren noch tricksende Radler | |
| und Radsportfunktionäre geben wird. | |
| Es gibt eine tief verwurzelte Tradition der Devianz. Sie vererbt sich von | |
| Radsportgeneration zu Radsportgeneration. Wer den Inner Circle betritt, der | |
| wird mit den Riten des Radsports vertraut gemacht, mit Spritzenkuren und | |
| Medikamentenmissbrauch. Er lernt, sein Verhalten zu rechtfertigen („Alle | |
| tun es“) und es zu verheimlichen („Ich wurde nie positiv getestet“). Er | |
| gibt nur das Unvermeidbare zu (siehe Lance Armstrong), und er behauptet, | |
| der Radsport sei auf dem Weg der Besserung („Wir stehen vor einem | |
| Neuanfang“). | |
| Die Initiation eines Novizen sah ja meist so aus: Er bekam Einblick in das | |
| System des Medikamentenmissbrauchs, er wurde Teil des Ganzen, ein getunter | |
| Ritter der Landstraße, der nach außen die hehren Werte des Sports vertrat, | |
| sich in trauter Runde aber ins Fäustchen lachte. | |
| Warum ist gerade der Radsport zum Hort des Dopings geworden? Ganz einfach: | |
| Weil es auf der Hand lag zu dopen. In den ersten Jahren der Tour de France | |
| wurden 300 Kilometer lange Etappen gefahren, über holprige Pisten mit | |
| Rädern ohne Gangschaltung und professionelle Betreuung der Rennfahrer. Die | |
| Radler starteten nicht selten schon kurz nach Mitternacht, um dann zehn, | |
| fünfzehn Stunden auf dem Rad zu hocken – jeden verdammten Tour-Tag bis zur | |
| körperlichen Erschöpfung. In dieser Überforderung, in dieser Inszenierung | |
| eines unmenschlichen Spektakels liegt der Keim des Dopings. Das Doping hat | |
| vor allem in den letzten 30, 40 Jahren wilde Blüten getrieben. | |
| ## Der Sportfan – macht er mit? | |
| Die Bekenntniswut von überführten Radprofis in den letzten Wochen wird | |
| nicht viel daran ändern, dass die Pflanze weiter wächst und gedeiht. Um sie | |
| mit Stumpf und Stiel auszureißen, müsste sich der Sport komplett verändern, | |
| dem Dopinggewächs müsste der Nährboden entzogen werden. Die Verbände | |
| müssten sich in absoluter Transparenz üben und die Altfunktionäre vom Hof | |
| jagen. | |
| Staaten müssten darauf verzichten, Botschafter in Trainingsanzügen | |
| loszuschicken und kleinkariert Medaillen zu zählen. Der Sport müsste seinen | |
| zirzensischen Charakter verlieren und die Event-Manager der | |
| Frankreich-Rundfahrt oder des Giro d’Italia begreifen, dass es 130 | |
| Kilometer lange Etappen mit nur einem Bergpass vielleicht auch tun. | |
| Aber machen da die Sportfans mit? Wird es der Breitensportler gut finden, | |
| jener unentdeckte kleine Selbstoptimierer, der sich vor seinem nächsten | |
| Marathon mit Kortison fitspritzen lässt und hochdosiert Aspirin einnimmt, | |
| damit das Blut schön dünn wird? Wird es der Sesselsportler goutieren, der | |
| jetzt wie ein Rohrspatz über Lance Armstrong und all die anderen „radelnden | |
| Apotheker“ schimpft? Wohl kaum, denn sie alle wollen das Event, die | |
| ultimative Show. Aber wer das Spektakel will, der muss auch Doping in Kauf | |
| nehmen. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Das hat die Geschichte | |
| der Selbstoptimierung im Sport gelehrt. | |
| 5 Feb 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Markus Völker | |
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