# taz.de -- Absage an den Bundespräsidenten: „Sehr geehrter Herr Gauck …“ | |
> Warum die Schwester eines Hamburger NSU-Mordopfers der Einladung ins | |
> Schloss Bellevue nicht folgt: Das Schreiben von Aysen Tasköprü im | |
> (gekürzten) Wortlaut. | |
Bild: „Etwas in mir ist zerbrochen“: Schweigemarsch für die Opfer rechtsex… | |
Sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck, vielen Dank für die Einladung. | |
Ich habe über meine Anwältin gehört, dass Sie nicht wünschen, dass die | |
Rechtsbeistände der Nebenkläger dabei sind. Sie möchten nur ihre Empathie | |
ausdrücken, aber keine Anwälte auf diesem Treffen sehen. Es wäre emphatisch | |
von Ihnen gewesen, nicht darauf zu bestehen, dass ich alleine ins | |
Präsidialamt komme. Ich fühle mich dem nicht gewachsen und werde daher Ihre | |
Einladung nicht annehmen können. Da Sie ja aber so daran interessiert sind, | |
wie es uns geht, werde ich Ihnen gerne schildern, wie es uns geht. | |
Im Sommer 2001 töteten die Neonazis meinen Bruder. Im Spätsommer 2011 | |
klingelte die Kripo bei mir. Sie brachten mir die persönlichen Gegenstände | |
meines Bruders. Ich fragte die Beamtin, warum jetzt die Sachen kämen; ob es | |
etwas Neues gibt. Sie sagte nur, man habe vergessen mir die Sachen | |
zurückzugeben. Dann ging sie wieder. | |
Ich habe stundenlang vor den Sachen meines toten Bruders gesessen; ich habe | |
tagelang gebraucht, um mich zu überwinden meinen Eltern davon zu erzählen. | |
(…) | |
Am 11. 11. 2011 klingelte das Telefon. Ein Arbeitskollege war dran und | |
sagte mir: „Aysen, mach sofort den Fernseher an“. Dann klingelte das | |
Telefon wieder und der Kripobeamte, der den Fall bearbeitet hatte, sagte | |
mir, die Mörder meines Bruders hätten sich umgebracht. (…) | |
Ich habe in dieser Nacht nicht geschlafen, ich musste mich ständig | |
übergeben. Am nächsten Tag hätte ich Frühdienst gehabt, ich konnte nicht | |
zur Arbeit gehen. Das Telefon klingelte ununterbrochen, Presse und | |
Fernsehen wollten Interviews, ich wollte nur meine Ruhe. (…) | |
Und dann kam der Abend, an dem ich vor dem Fernseher saß und auf einmal das | |
Bekennervideo der NSU gezeigt wurde. Ich habe angefangen zu schreien. Da | |
lag mein Bruder in seinem eigenen Blut auf den rotweißen Fliesen, die ich | |
so gut kannte. Ich sehe seine zierlichen Hände und ich erkenne seine | |
Armbanduhr. Und kein Lächeln auf seinen Lippen; er ist ermordet worden. (…) | |
An diesem Tag ist mein Bruder ein zweites Mal gestorben und etwas in mir | |
ist zerbrochen. (…) | |
Ich wurde 1974 in der Türkei geboren; seit 1979 lebe ich in Deutschland. | |
Ich bin hier zur Schule gegangen, habe meine Ausbildung gemacht und | |
gearbeitet. Mein Sohn wurde hier geboren und ich fühlte mich als Deutsche | |
mit türkischen Wurzeln. | |
Noch im März 2011 konnte ich darüber lachen, als eine Sachbearbeiterin im | |
Rathaus zu meinem Sohn sagte, er sei kein Deutscher. Der Kleine war ganz | |
erstaunt, er habe schließlich einen deutschen Pass. (…) Heute kann ich | |
darüber gar nicht mehr lachen. Ich hatte mal ein Leben und eine Heimat. Ich | |
habe kein Leben mehr. Ich bin nur noch eine leere Hülle, die versucht, so | |
gut wie möglich zu funktionieren. (…) | |
Ich habe auch keine Heimat mehr, denn Heimat bedeutet Sicherheit. Seitdem | |
wir wissen, dass mein Bruder ermordet wurde, nur weil er Türke war, haben | |
wir Angst. Was ist das für eine Heimat, in der du erschossen wirst, weil | |
deine Wurzeln woanders waren? Meine Mutter verlässt das Haus nur noch, wenn | |
es überhaupt nicht zu vermeiden ist. Mein Vater und meine Schwester sind | |
schon zusammengebrochen (…) | |
Mein Arzt hat festgestellt, dass ich nicht arbeitsfähig bin. Die | |
Krankenkasse hatte mich einbestellt und mir gesagt, ich soll meine | |
Krankmeldung zurücknehmen; ich soll Urlaub einreichen. Als ich mich | |
weigerte, bekam ich ein Schreiben, der sozialmedizinische Dienst hätte mich | |
als arbeitsfähig eingestuft. Allerdings haben die mich nie gesehen. Seitdem | |
werde ich zwischen meinem Arbeitgeber, der auf einen Aufhebungsvertrag | |
drängt, der Krankenkasse, die bezweifelt dass ich krank bin und der Arge, | |
die meinen Aufenthaltsstatus wissen will, hin- und hergeschubst. Ich fühle | |
mich unerwünscht. | |
Alles was ich noch möchte, sind Antworten. Wer sind die Leute hinter der | |
NSU? Warum ausgerechnet mein Bruder? Was hatte der deutsche Staat damit zu | |
tun? Wer hat die Akten vernichtet und warum? | |
Und noch eins zum Schluss: die Menschen, die sich jetzt mit einem Bild von | |
meinem Bruder zeigen (…): wo wart ihr 2001? (…) Damals hat niemand um | |
meinen Bruder getrauert. Heute ist er Euch auf einmal so wichtig. | |
Und auch Ihnen, Herr Bundespräsident Gauck, ist mein Bruder doch nur | |
wichtig, weil die NSU ein politisches Thema ist. Was wollen Sie an unserem | |
Leid ändern? Glauben Sie, es hilft mir, wenn Sie betroffen sind? | |
Ich würde mir wünschen, dass Sie als erster Mann im Staat mir helfen | |
könnten, meine Antworten zu finden. Da helfen aber keine emphatischen | |
Einladungen, da würden nur Taten helfen. Können Sie mir helfen? Wir werden | |
sehen. | |
Mit freundlichen Grüßen, | |
Aysen Tasköprü | |
15 Feb 2013 | |
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