# taz.de -- Theater gegen Missbrauch: Glückwunsch, Frau Schröder | |
> Die Familienministerin lässt ein Kindertheaterstück gegen sexuellen | |
> Missbrauch inszenieren. Humorlose Präventionspädagogik? Nein, es gelingt. | |
Bild: Mutmaßlich einvernehmliches Geherze mit der Ministerin. | |
Das kennt fast jeder. Omi begrüßt ihr Enkelkind mit einem Ausruf des | |
Entzückens – und feuchten Küssen. So geht es auch Vladimir. „Da ist ja me… | |
Purzelbäumchen“, stürmt ihm Großmutter entgegen – und überhäuft ihn mit | |
Schmatzern. Will ihre Liebe zeigen. Aber der Junge fühlt sich wie beregnet. | |
Und missachtet. | |
„Vladimir möchte nicht mehr abgeschlabbert werden“, sagt eine | |
Kommentarstimme. „Großmutter soll seine Grenzen sehen.“ Weil sie es nicht | |
sieht, kommt auf Vladimir jetzt eine große Aufgabe zu. Er will, er muss Oma | |
klar machen: Ich will das nicht. Aber wie? Vladimir, du darfst das! Trau | |
dich! | |
Die Szene spielt im gleichnamigen Theaterstück „Trau dich“. Auf die Bühne | |
hat es die [1][Kompanie Kopfstand] gebracht. Es ist Präventionstheater | |
gegen Missbrauch. Auftraggeber: [2][Familienministerin Kristina Schröder]. | |
Die Schauspieler sollen Kindern das Ekelthema sexuelle Gewalt, wie soll man | |
es nennen, nahebringen. | |
Pädagogisches Theater plus Bundesministerin – diese Produktion steht von | |
Anfang unter schwerem Verdacht. Dramaturgie mit erhobenem Zeigefinger. | |
Moraltriefend. Und wo bleibt die Kunst? Kein Lachen nirgends? Aber siehe | |
da, was die vier von der Kompanie abliefern, es hat alles, was Theater | |
ausmacht: Gefühle, Tragik, Lachen, beeindruckendes Spiel – und sogar | |
Mitmachen. | |
## Jetzt geht es zu weit | |
Sexuelle Gewalt beherrscht die Medien und die Träume, nicht nur der Opfer, | |
sondern längst der Zuschauer. Etwa, wenn sie sehen, wie gedankenlos der | |
Million-Dollar-Moderator Günther Jauch das Innerste Natascha Kampuschs | |
ausweidet. Die Meldungen sind schwer fassbar. Jeden Tag zeigen 33 junge | |
Menschen einen verübten Übergriff an – und das sind nur die offiziellen | |
Zahlen. Die Dunkelziffer ist höher. Dennoch braucht man das nicht zu | |
wissen, wenn die Kompanie Missbrauch inszeniert. Die vier Schauspieler | |
machen wie mit einem Mikroskop das sichtbar, um was es geht: das Gefühl, | |
jetzt geht es zu weit. „Das ist mir zu nah.“ Stopp! | |
Das ist bei der Oma so. Sie wird im Stück weder fertig gemacht noch den | |
Voyeuren freigegeben, wie es der Journalismus so gern macht. Stattdessen | |
berät sich Vladimir lange mit seiner Mutter, wie er es der Oma verklickern | |
könnte – und mit dem Kinderpublikum: sagen, zeigen oder sogar schreiben? | |
## Unbeweglich sein | |
Als Alina von ihrem künftigen Schwager im Auto missbraucht wird, gelingt | |
etwas Faszinierendes: Die beiden, Alina und der Täter, spielen den | |
Übergriff, ohne ihn zu spielen. Die Szene friert ein. „Er berührt ihre | |
Scheide“, kommt aus dem Off. „Alina kann sich nicht mehr bewegen.“ Der | |
unentwirrbare Knoten aus Scham, Ohnmacht und vermeintlicher Schuld schnürt | |
sich vor den Augen des Publikums zu. Einerseits. | |
Andererseits behalten die Darsteller die Fäden in der Hand – und geben sie | |
an die Kinder weiter. Vielleicht ist da zu viel hinein interpretiert, man | |
müsste die kleinen Zuschauer fragen, was aber ohne professionelle | |
Begleitung zu vermeiden ist: Die Kinder sind Akteure, sie werden von Minute | |
null des Stücks an, noch im Foyer, dazu ermächtigt. Und dann immer wieder. | |
Sie lernen, dass „schlechte Gefühle eine Alarmanlage sind“, wie Geheimnisse | |
entstehen und, sehr wichtig, dass das, was Alina erleidet, verboten ist. | |
Durch ein Gesetz. Dass sie nicht schuld ist – „auch wenn sie sich schuldig | |
fühlt. Sie hat ein Recht auf Hilfe. Sie ist nicht schuld.“ | |
Das Stück hat am Freitag im Berliner Renaissance-Theater Premiere für | |
geladenes Publikum. Danach tourt es zwei Jahre durch die Schulen in | |
Deutschland, erste Stationen sind Wuppertal (6. März), Zwickau und Kassel. | |
Man muss also abwarten, was es bewirkt. Jetzt schon darf man die Truppe | |
beglückwünschen – und auch Ministerin Schröder. Vor allem aber Vladimirs | |
Oma. Denn sie versteht, dass ein 11-Jähriger, auch wenn er kein | |
Purzelbäumchen sein will, sie trotzdem lieb hat. | |
1 Mar 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.kompaniekopfstand.eu/ | |
[2] http://www.sag-mal-theater.de/ | |
## AUTOREN | |
Christian Füller | |
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