# taz.de -- Nachruf Hugo Chávez: Sozialist und Showman | |
> Er war das Enfant Terrible des lateinamerikanischen Linksrucks. Hugo | |
> Chávez hat einen Kontinent verändert. Und zwar zum Guten. | |
Bild: Kein Theoretiker der Revolution sondern ein medienbegabter Showman und Ma… | |
War er ein Revolutionär? Ein großer Staatsmann? Eines ist sicher: Hugo | |
Rafael Chávez Frías, geboren am 28. Juli 1954 in einer ärmlichen | |
Palmwedelhütte im Dorf Sabaneta im brütend heißen Bundesstaat Barinas, | |
gestorben am 5. März 2013 im Militärkrankenhaus in Caracas, hat einen | |
Kontinent verändert. | |
Und zwar zum Guten. Man mag von seinen Politikstil halten, was man will. | |
Lateinamerika ist unwiderruflich nach links gerückt und Chávez hat den | |
Impuls dazu gegeben, als er Anfang 1999 das Präsidentenamt antrat – vier | |
Jahre vor Brasiliens Lula, sieben Jahre von Boliviens Evo Morales und acht | |
Jahre vor Ecuadors Rafael Correa. | |
Die traditionellen Eliten Venezuelas – und ganz Lateinamerikas – haben ihn | |
gehasst und als „zambo“ abgekanzelt, als „Bastard“ mit afrovenezolanisc… | |
und indianischen Wurzeln. Mario Vargas Llosa hat ihn als „lächerliche | |
Persönlichkeit“ verspottet, der spanische König gar befahl Chávez, die | |
Klappe zu halten als dieser bei einem Gipfel gegen den | |
Ex-Ministerpräsidenten José María Aznar polemisierte. Kurzum: Chávez war | |
das Enfant Terrible des lateinamerikanischen Linksrucks – als erklärter | |
Sozialist, als überdrehter Medien-Dampfplauderer und als Volkstribun, der | |
gegen den Imperialismus und die Oligarchie wetterte. | |
In den deutschen Medienmainstream schaffte er es selten mit seinen | |
Maßnahmen zur Armutsbekämpfung. Immer eine News wert dagegen waren die | |
krassen und pittoresken Momente seiner politischen Karriere, von denen es | |
reichlich gab: Als er 2006 George W. Bush vor der Uno-Generalversammlung | |
den „Teufel“ nannte und sich dabei bekreuzigte. Als er 2005 den damaligen | |
Präsidenten Vicente Fox einen „Schoßhund des Imperiums“ schimpfte und in | |
Solidarität mit dem mexikanischen Volk mit einem riesigen Sombrero auf dem | |
Kopf Rancheras anstimmte. | |
Als er in Teheran mit dem iranischen Präsidenten Mahmud Amadinedschad den | |
antimperialistischen Schulterschluss übte oder – wie zuletzt geschehen – | |
darüber mutmaßte, ob seine Krebserkrankung nicht eine Art biologischer | |
Kriegsführung der USA sein könnte. All das passte nur zu gut zum Klischee | |
vom lateinamerikanischen Caudillo-Revoluzzer. | |
## Politikmachen im Fernsehen | |
Tatsächlich war Chávez mit seinem für hiesige Geschmäcker befremdlichen | |
Politikstil extrem populärdemokratisch. Seine sonntägliche Talkshow „Aló | |
Presidente“ etwa verlegte tatsächlich das Politikmachen ins Fernsehen. | |
Chávez verkündete Entscheidungen, ließ sein Kabinett berichten, zeigte | |
heimlich aufgenommene Videos von internationalen Gipfeltreffen und ließ | |
sich – immer an einem anderen Ort – Sozial- oder Infrastrukturprojekte der | |
bolivarischen Revolution vorführen. | |
So machte er Politik auf eine showhafte Weise transparent und kostete als | |
Moderator und Host die Amplitude zwischen der Präsidentenrolle und der | |
Rolle des Anführers der „Bolivarischen Revolution“ voll aus. Der | |
repräsentative Ton des Staatsoberhaupts konnte jederzeit umschlagen in eine | |
aufbrausende Hemdsärmeligkeit des Revolutionärs oder in volksnahe | |
Lehrstunden zu politischen Fragen. Und natürlich gehörte zum | |
Sendungskonzept auch, dass Regierungsfunktionäre und politische Beamte | |
Rechenschaft ablegen mussten. | |
Eben das machte das Charisma des Comandante Chávez zu der zentralen | |
politischen Figur, der die diversen Fraktionen der bolivarischen Revolution | |
in Venezuela zusammenhielt. Wenn die Campesinos auf die Straße gingen, um | |
eine Landreform einzuklagen, wenn die Bewohner der Barrios Maßnahmen gegen | |
die grassierende Bandenkriminalität einforderten, wenn indigene | |
Organisationen gegen den Kohleabbau in ihren Gebieten demonstrierten, dann | |
protestierten sie gegen Ministerien, lokale Autoritäten oder Funktionäre – | |
aber immer im Namen von Hugo Chávez. | |
Der Mehrheit der ärmere Bevölkerung galt Chávez als echter Revolutionär, | |
als Mann der Basis, der einer tendenziell korrupten und volksfernen | |
politischen Klasse Beine macht. Das mag zum Teil auch die hohen | |
Wahlergebnisse erklären, die er bei allen vier Präsidentschaftswahlen | |
während seiner 14-jährigen Regierungszeit eingefahren hat. | |
## Mehr als bloß Charisma | |
Aber Charisma ist nicht alles. Die satte Mehrheit von zuletzt 54 Prozent, | |
die Chávez im Oktober 2012 zum Präsidenten wählten, verdankt sich durchaus | |
einer realen Verbesserung der Lebensverhältnisse. Dazu gehören: Der Ausbau | |
der medizinischen Versorgung, des Bildungssystems, die Beschäftigungs- und | |
Qualifizierungsprogramme, die Installierung kommunaler Räte, die auf | |
lokaler Ebene Mittel mobilisieren können und diverse andere | |
wohlfahrtstaatliche Maßnahmen, die in chavistischer Diktion „Misiones“ | |
heißen. | |
Dass ihm die Mittel dafür dank historisch hoher Ölpreise nicht ausgingen, | |
ist bekannt. Weniger bekannt ist, dass Chávez und die seinen durch die | |
Entmachtung der venezolanischen Petrodollar-Bourgeoisie im staatlichen | |
Erdölkonzern PdVSA überhaupt erst die Voraussetzungen geschaffen haben, | |
dass die Gewinne aus dem Erdölgeschäft dem Staat für wohlfahrtstaatliche | |
Maßnahmen zur Verfügung stehen. Und die Chávez-Administration hat zur | |
Jahrtausendwende einiges unternommen, um die Opec wieder zu einem | |
funktionierenden Preiskartell zu machen. | |
Dass die bolivarische Revolution am Erdöl hängt, wusste Chávez schon in den | |
Achtziger Jahren, als er als junger Offizier an einer | |
linksnationalistischen Verschwörung innerhalb der venezolanischen Armee | |
strickte. Auf der Suche nach Verbündeten traf er damals etwa den | |
Ex-Guerrillero Alí Rodríguez Araque oder den deutschen Mathematiker und | |
SDS-Aktivisten Bernard Mommer, die sich intensiv mit der politischen | |
Ökonomie des Erdöls beschäftigten und damit als Minister, PdVSA-Manager und | |
Opec-Funktionäre die chavistische Rohstoffpolitik formen sollten. | |
Während die alten Eliten sich als Verbündete der Abnehmerstaaten sahen – | |
vornehmlich die USA – und ihr Heil darin suchten, dem Weltmarkt preiswertes | |
Erdöl zu Verfügung zu stellen, trug Chávez dafür Sorge, dass die Nation | |
wieder einen satten Anteil aus dem Ölexport bekommt. | |
## Petrodollars als Achillesferse | |
Doch auch Chávez' Gegnern war klar, dass die Petrodollars die Achillesferse | |
der Revolution sind: Als im Winter 2002/2003 die Manager und Angestellten | |
der Erdölgesellschaft PdVSA monatelang die Ölforderanlagen, Raffinerien und | |
Tanker lahmlegten, stand das Land vor dem Ruin – bis Studenten und | |
Militärangehörige die Anlagen wieder in Betrieb nahmen. | |
Nur einige Monate vorher, im April 2002, hatten Teile der Militärführung | |
versucht, Chávez aus dem Amt zu putschen. Sie scheiterten am Widerstand der | |
unteren Militärränge – und an der massenhaften Mobilisierung seiner | |
Anhänger, die tagelang den Präsidentenpalast Miraflores belagerten, bis die | |
Putschisten durch den Hinterausgang flohen. | |
Er selbst habe die politische Bühne als Putschist betreten, das haben ihm | |
seine Gegner immer vorgeworfen. Im offiziellen Sprachgebrauch war der Coup, | |
mit dem der damals 37-jährige Oberstleutnant und Fallschirmspringer am 4. | |
Februar 1992 gemeinsam mit anderen jungen Offizieren die Macht übernehmen | |
wollte, eine Erhebung. Die Operation misslang gründlich. Aber mit der knapp | |
einminütigen Rede im Fernsehen, in der der damals völlig unbekannte Soldat | |
seine Mitverschwörer zur Aufgabe überredete, spielt sich Chávez in die | |
Herzen vor allem der Barrio-Bewohner. | |
Er spricht freundlich und höflich, übernimmt die Verantwortung für den | |
Coup, ist als Mestize offensichtlich nicht Teil der weißen Oligarchie – und | |
er repräsentierte eine Rebellion jüngerer Dienstgrade gegen ein politisches | |
und militärisches Establishment, das schon lange in der Bevölkerung | |
verhasst ist. Putschversuch oder nicht: Schon am Tag nach der Erhebung | |
tauchen in Caracas die ersten „Viva Chávez!“-Graffitis auf. | |
Es ist der Beginn einer erstaunlichen politischen Karriere, die den | |
inhaftierten Offizier-Rebell erst zur Ikone der Armen und schließlich zum | |
Anführer eines breiten Wahlbündnisses macht, in dem Trotzkisten, | |
Anarchisten, Ex-Guerilleros, Sozialdemokraten, linkes Bürgertum und | |
Basisorganisationen aus den armen Barrios gemeinsam für eine politische | |
Erneuerung kämpfen. | |
## Das S-Wort | |
1998 verhelfen sie Hugo Chávez 1998 zum Wahlsieg. Angetreten als linker | |
Nationalist ruft er um 2004 den „Sozialismus des 21. Jahrhundert“ aus. Er | |
ist der erste Präsident, der das verbrannte S-Wort nach dem Zusammenbruch | |
der Sowjetunion wieder in den Mund nimmt. | |
21 Jahre hat die politische Karriere von Hugo Chávez gedauert, bevor ihn | |
der Tod ereilte. Im Juni 2011 wurde bekannt, dass erwegen eines Abszesses | |
auf Kuba operiert werde. Es war der Anfang vom Ende und der Beginn eines | |
18-monatigen Kampfes gegen eine Krebserkrankung, um deren genaue Gestalt | |
der venezolanische Regierungsapparat bis zu Schluss ein Geheimnis gemacht | |
hat. Sowohl der oppositionelle Journalist Nelson Bocaranda als auch der | |
deutsche Marxist und Chávez-Freund Heinz Dieterich mutmaßten öffentlich, | |
der Präsident Chávez an einem hoch bösartigen Weichteiltumor namens | |
Rhabdomyosarkom. | |
Als Chávez Anfang Dezember 2012 mit dem ehemaligen Außenminister und | |
jetzigen Vizepräsidenten Nicolas Maduro seinen Wunschkandidaten als | |
Nachfolger ausrief, war das Ende absehbar. Am späten Dienstagnachmittag | |
trat Maduro vor die Kameras, um unter Tränen zu verkünden, dass der | |
Präsident um 16:25 gestorben ist. Und verkündete kurz darauf mit Blick auf | |
anstehende Aufgaben: „Ab sofort ist es verboten, zu weinen“. | |
Wie die „bolivarische Revolution“ den Verlust ihres charismatischen und | |
ubiquitären Anführers verkraften wird, ist schwer zu ermessen. Maduro hat | |
nicht seine Aura - und dass ein Machtkampf zwischen den Fraktionen der | |
Bewegung ansteht, ist an den allfälligen Appellen an die „Einheit“ zu | |
ermessen, die nach seinem Tod die öffentliche revolutionäre Rhetorik | |
prägen. | |
## Flamboyante Rhetorik | |
Chávez hat kein „Bolivianisches Tagesbuch“ hinterlassen wie Ché Guevara u… | |
auch ein Manifest den Sozialismus des 21. Jahrhunderts hat er nicht | |
geschrieben. Kein Theoretiker der Revolution sondern ein medienbegabter | |
Showman und Machtpolitiker ist gestorben, unzählige Youtube-Clips bleiben | |
als Zeugnis seiner flamboyanten Rhetorik. | |
Er war ein Maulheld wie Muhammad Ali, einer, der sich mit Verve in eine | |
antikoloniale, antiimperialistische Pose warf, der sich nicht wie so viele | |
andere lateinamerikanische Politiker durch Wohlanständigkeit und Anpassung | |
in die Rolle des Juniorpartners der USA fügte. Ein polternder, anmaßender, | |
anti-elitistischen Volkstribun mit Hang zum Messianischen. | |
Auch wenn ihn die Welt einen „Diktator“ nannte und die FAZ ihm | |
„altsozialistische Gängelungs- und Einschüchterungsmethoden“ vorwirft: Zum | |
veritablen Bad Guy war er nicht hochzustilisieren, wie selbst die zur | |
Übertreibung neigende venezolanische Opposition irgendwann erkannte. | |
Sein Herausforderer Henrique Capriles, einst ein fanatischer, militanter | |
Antichavist warb mit dem Versprechen für sich, er werde im Falle eines | |
Wahlsiegs die „Missionen“ des Comandante weiterführen – nur effektiver. | |
Selbst seine ärgsten politischen Gegner mussten zugestehen, dass er die | |
soziale Frage unwiderruflich auf die Agenda gesetzt hat, in Venezuela und | |
ganz Lateinamerika. Er wird dem Kontinent fehlen. | |
6 Mar 2013 | |
## AUTOREN | |
Christoph Twickel | |
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