| # taz.de -- Nominiert für den Leipziger Buchpreis: Lottas kalte Schulter | |
| > In Lisa Kränzlers „Nachhinein“ erscheint die Sprache als heimliche | |
| > Protagonistin. Die Hauptrollen spielen zwei präpubertäre Freundinnen. | |
| Bild: Die eine spielt Nintendo, die andere Klavier | |
| Es kommt die Zeit – oooooh / in der das Wünschen wieder hilft …“ Wenn der | |
| Überfall durch Langeweile droht, beginnen die zwei besten Freundinnen | |
| populäres Liedgut in den Wald zu brüllen. Schlager und | |
| Walt-Disney-Filmmusik halten bei Laune, bis dann das blöde Wunsch-Lied | |
| wieder angestimmt wird. Zu kläglich für LottaLuisaLuizas Geschmack, die | |
| sich nicht zu denen zählen will, die aufs Wünschen hoffen müssen. Und dazu | |
| das leidende Gesicht ihrer zehnjährigen Freundin. „Was ist am Hier und | |
| Jetzt so schlecht?“, fragt sie sich. „Die Zukunft ist ein Horizont, auf den | |
| man nur zugehen kann. Das Jetzt macht alle Unterschiede.“ | |
| Die lebensbejahende Haltung der Protagonistin in Lisa Kränzlers zweitem | |
| Roman „Nachhinein“ speist sich aus ihrem wohlbehüteten Jetzt: | |
| Akademikereltern, Frischobst und Fußbodenheizung. Nur eine Straße trennt | |
| ihr Haus von dem der Freundin, die in einer gegenteiligen Umwelt | |
| sozialisiert wird und Jasmin oder Justine oder Celine heißt. Das ist auch | |
| nicht so wichtig, denn wie alle anderen Noch-Lebenden in der Erzählung ist | |
| auch sie nur ein Prototyp in irgendeinem Dorf der süddeutschen Provinz. | |
| Die verqualmte Mietwohnung, die die Freundin mit Alkoholikervater und Co. | |
| bewohnt, betritt LottaLuisaLuiza nur, wenn es sein muss. Ein winziges Stück | |
| Pobacke schiebt sie an den Rand der Couchsitzfläche, um dort Zutraulichkeit | |
| zu vermitteln, wo eigentlich nur Misstrauen herrscht. Und das bestätigt | |
| sich dann auch selbst, wenn die Freundin – vor dem Flimmern des erotisch | |
| geladenen Paula-Abdul-Videos – vom eigenen Bruder ungeniert befummelt wird. | |
| Fast schmerzt es ein bisschen, wenn die Autorin ihre Charaktere und | |
| Schauplätze so grell überzeichnet. Das Wissen darum, dass Lisa Kränzler | |
| eigentlich Bildende Künstlerin ist und Malerei studiert hat, macht die | |
| Kontraste wiederum äußerst verlockend. Eine JasminCelineJustine malt sich | |
| die Freiburger Autorin Nintendo spielend auf dem Teppichboden aus, während | |
| eine LottaLuisaLuiza jede freie Minute ihren eigenwilligen Improvisationen | |
| auf dem Klavier in der Galerie widmet. | |
| ## Vom Kindergarten bis zum ersten Kuss | |
| Zeit ist nicht nur die determinierende Größe für die Vertraulichkeit | |
| zwischen den zwei sozial ungleichen Figuren, um die es im Wesentlichen geht | |
| – auf den Wechsel zu weiterführenden Schulen folgt der Trennungsprozess –, | |
| Zeit bestimmt auch die Logik der literarischen Erzählstimme Kränzlers, die | |
| sich vom statischen Moment der Malerei gewandt abzulösen weiß. | |
| Vom Kindergarten bis zum ersten Kuss begleiten wir die geschützte | |
| Entwicklung der privilegierten Ich-Erzählerin, die die Andersartigkeit des | |
| Nachbarsmädchens zunächst als Reiz, dann zunehmend als Belastung wahrnimmt. | |
| Diesem wird indessen schon früh das Recht auf Kindheit entrissen, als es | |
| mit zehn Jahren zum ersten Mal vom Vater vergewaltigt wird. Erbarmungsloser | |
| erscheint da fast nur die kalte Schulter LottaLuisaLuizas, die sich, nichts | |
| wissend und doch alles ahnend, mit einem nüchternen Entschluss von der | |
| Verzweiflung der besten Freundin abschirmt: „Ich will das alles nicht mehr | |
| sehen.“ | |
| Doch noch weniger Erbarmen kennt letztlich nur die unsentimentale Sprache | |
| Kränzlers, die als heimliche Protagonistin Ungeheuerliches auf | |
| fotorealistische Weise zu vermitteln weiß: „Ihr Inneres – ein | |
| Falterfriedhof. Was feucht und rot und violett war, überziehen | |
| schwärzliche, schuppige Schichten. (…) Sie spürt den Kadaver der Falter in | |
| ihren Adern.“ | |
| Die Form der rückblickenden Selbstanklage nimmt „Nachhinein“ erst zum | |
| Schluss an, als die ganze verstörende Geschichte erzählt und die | |
| Freundschaft längst zerbrochen ist. Und bis zuletzt weiß man als Gegenstand | |
| der Anklage sich nicht so recht zwischen dem Narzissmus eines Kindes und | |
| der Ignoranz der sogenannten Bildungselite zu entscheiden. Im Nachhinein | |
| aber scheint auch das nicht mehr so wichtig, denn alles ist geschehen und | |
| vorbei im Jetzt, das alle Unterschiede macht. | |
| ## „Nachhinein“. Verbrecher Verlag, Berlin 2013. 300 Seiten, 22 Euro | |
| 13 Mar 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Fatma Aydemir | |
| Fatma Aydemir | |
| ## TAGS | |
| Freundschaft | |
| Leipzig | |
| Buchpreis | |
| Deutscher Buchpreis | |
| Schwerpunkt Occupy-Bewegung | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| „taz“ auf der Leipziger Buchmesse 2013: Schlechtes suspendieren | |
| Die Startheoretiker der Rebellion, das Duo Antonio Negri/ Michael Hardt | |
| schlagen wieder zu. In „Demokratie - Wofür wir kämpfen“ geht es ums Ganze. | |
| „taz“ auf der Leipziger Buchmesse 2013: Darauf einen Sechsämtertropfen | |
| Stilbildender Humorist, eigenwilliger Autor: Eckhard Henscheids neues Buch | |
| „Denkwürdigkeiten“ könnten als seine Memoiren durchgehen. | |
| „taz“ auf der Leipziger Buchmesse 2013: Reformvorschläge eines Insiders | |
| Winfried Ridder war Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz. | |
| Könnte es einen besseren Autor für ein Buch über die Misere der deutschen | |
| Geheimdienste geben? | |
| „taz“ auf der Leipziger Buchmesse 2013: Schiedsrichter in Karlsruhe | |
| Das Bundesverfassungsgericht genießt höchste Autorität. Warum eigentlich? | |
| Christian Rath antwortet in „Schiedsrichterstaat“. Selbstverständlich | |
| parteiisch. | |
| „taz“ auf der Leipziger Buchmesse 2013: Der Auskenner | |
| Er trifft toughe Medien-Frauen und weinende Männer, sensible Nerds und | |
| schwule Mädchen: Martin Reichert ist auf „Friedensmission zwischen Mann und | |
| Frau“. |