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# taz.de -- In Chile auf den Spuren Pablo Nerudas: Geronnene Liebe zum Meer
> Wer Chile besucht, kann vergnügliche Stunden in den Häusern Pablo Nerudas
> verbringen. Sie erzählen vom Leben des berühmten Dichters.
Bild: Wegweiser zum ehemaligen Wohnhaus von Pablo Neruda in Isla Negra.
„Nerudas Auszug in die Welt“, sagt Darío Oses, Bibliothekar der
Pablo-Neruda-Stiftung in Santiago de Chile, „ist metaphorisch
versinnbildlicht im Meer.“ Chiles berühmtester Dichter musste 16 Jahre alt
werden, bis er dieses Meer zum ersten Mal sah: aus der Isolation der
ländlichen Kleinstadt Temuco, im regenreichen Süden Chiles, reiste er 1920
mit der Familie an die Küste.
Per Zug und Flussboot geht es aus der Region der chilenischen Urwälder und
Berge nach Puerto Saavedra. Dort sieht der junge Neruda den gewaltigen
Pazifischen Ozean, den der Humboldt-Strom in diesen Breiten auf eine
schneidende Klarheit herunterkühlt, zum ersten Mal.
„Das Meer wird zu einer der großen mythischen Leidenschaften der Poesie
Nerudas, zusammen mit dem Wald des Südens. Dort rührt seine Dichtung her,
eine Dichtung, die die Welt besingt“, sagt Oses.
Die Reise, vom Vater geplant, um den Sohn von der Poesie zu lösen, wird zur
poetischen Initiation: Die Tiefe der Wälder in der Provinz hat Neruda
durchstreift, die Begegnung mit dem offenen Meer gerät zum Aufbruch, zum
letzten Impuls, der fehlte, um zu dichten und die Welt zu erobern.
Es ist das Meer, das Neruda bald darauf in die Welt trägt. Per Schiff reist
er 1927 zuerst nach Südostasien, wo er in verschiedenen Ländern als Konsul
arbeitet, danach unter anderem nach Spanien und schließlich nach Schweden,
wo er 1971 den Nobelpreis für Literatur entgegennimmt.
Das Element, das ihn in die Welt trägt und inspiriert, bannt Neruda in
mannigfacher Gestalt in seine drei Häuser, am unmittelbarsten in Isla
Negra. In dem kleinen Ort, 70 Kilometer südlich der Hafenstadt Valparaíso,
kauft er sich 1939 ein altes Steinhaus an einem einsamen Strand, lässt es
umbauen und neue Gebäude dazubauen.
Über den Hang zum Strand wuchern heute die Mittagsblumen, Schwalbenschwärme
schwirren durch die Luft, das Meer bricht sich rau an den Felsen. Innen
gleicht das Haus einem Boot: Über eine enge Holztreppe gelangt man auf die
Kapitänsbrücke, das lichte Schlafzimmer.
## Die große Liebe
Von dort aus blickte der Dichter mit seiner großen Liebe Matilde Urrutia
auf den Pazifik, das Bett dabei so ausgerichtet, dass die Sonnenstrahlen
die beiden einmal im Laufe des Tages umwanderten: Morgens fielen sie ihnen
auf den Kopf, abends auf die Zehenspitzen. Auch in seinen anderen Häusern,
in Santiago und in Valparaíso, thronte Neruda als Kapitän über den Dingen,
Fernglas und Weltkugel an seiner Seite.
In der mythischen Hafenstadt Valparaíso schweifte sein Blick aus dem Haus,
das auch von außen an einen Ozeantanker erinnert, dabei nicht nur hinunter
auf die Bucht, sondern auch auf das bunte Häusermeer. „Valparaíso ist
verschwiegen, gewunden, gekrümmt. Über die Hügel ergießt sich das
Bettelvolk wie eine Kaskade“, schreibt Neruda.
Seine Refugien sind vollgestopft mit Schätzen, die er in der Welt
zusammentrug oder von Freunden geschenkt bekam. Überall finden sich
Meereskarten, Schiffsinterieur und, vor allem auf Isla Negra: Muscheln in
allen Farben, Formen und Größen.
Denn Neruda war auch ein passionierter Malakologe, der eine stattliche
Sammlung von über 7.000 Muscheln zusammentrug und diese 1953 dem Archiv der
Universität von Chile vermachte.
## Schmetterlinge und Käfer
Aber auch Kollektionen kleiner mexikanischer Teufelsfigürchen, von
Schmetterlingen, Käfern oder Saiteninstrumenten, finden sich sowie bizarre
Objekte, beispielsweise ein überdimensionierter, einzelner Herrenschuh und
ein lebensgroßes Pferd. Es sind Reklamen der damaligen Geschäfte von
Temuco, Zeugnisse einer noch nicht lang vergangenen Zeit, als nur wenige
der Landbewohner Chiles lesen und schreiben konnten.
„Neruda sammelte keine große Kunst, ihn interessierten Dinge, die Menschen
gebraucht haben, die Kontakt hatten mit der Geschichte, die er zu ergründen
suchte“, sagt Oses.
Die Dinge treiben ihm zu, oder er sucht sie: Aus dem Ozean fischt Neruda
seine Schreibtischplatte, Überrest eines gekenterten Schiffs.
Als Bar, die in keinem der Häuser fehlen durfte und hinter der er nur sich
duldete, um die illustren Gesellschaften aus chilenischen und ausländischen
Künstlern und Intellektuellen zu bewirten, installierte er in Santiago das
prachtvolle Exemplar eines alten Schiffs mit silbernen Fischwasserhähnen.
## Ein Versuch das Meer zu zähmen
Warum diese Besessenheit, alles zu sammeln, was mit dem Ozean in Verbindung
stand? „Ich glaube, Neruda hat sein Leben lang darum gerungen, sich das
Meer zu erklären, das immer schon da war, aber letztlich nicht zu
dechiffrieren ist. Über das Sammeln von Dingen, die aus dem Meer stammen,
hat er versucht, es zumindest ein bisschen zu zähmen“, sagt Oses.
Neruda ist ein enzyklopädischer Dichter. Er erschafft das poetische
Inventar Lateinamerikas, besingt seine Geschichte und Natur, so wie sein
größtes Vorbild Walt Whitman die Natur Nordamerikas besang. „Aber Neruda
schreibt auch über die Fischer, die Taucher, das maritime Licht oder die
weiblichen Galionsfiguren, die er sammelte und die in sich die Geschichte
des Ozeans tragen, über den sie gefahren sind“, sagt Oses.
Eine der jahrhundertealten Galionsfiguren, die Medusa, birgt einen Teil der
Geschichte des Dichters, der schreibt, das Meer klinge wie das Geräusch der
ewigen Schlachten der Menschheit.
## Nerudas Flucht
1948 muss Neruda fliehen vor der Verfolgung des chilenischen Präsidenten
Gabriel González Videla, der die kommunistische Partei verboten hatte, in
die Neruda 1945 eingetreten war. Neruda hatte deswegen im Senat furiose
Reden gegen Videla verfasst. Über ein Jahr taucht er in Chile unter, bis
er, getarnt als Vogelkundler, auf dem Pferd die Anden nach Argentinien
überqueren kann.
Auf seiner Odyssee durch die Häuser von Freunden oder fernen Bekannten, die
ihm Unterschlupf gewähren, bekommt er eines Tages in Valparaíso zugetragen,
ein Schiff werde abgewrackt. Ob sich eine Galionsfigur daran befinde, fragt
er und setzt seine Freunde in Bewegung, die Medusa zu bergen.
Später schreibt er: „Es waren turbulente Tage, meine Poesie durchstreifte
die Straßen, was dem Unheilvollen nicht gefiel. Er wollte meinen Kopf. Die
Operation [zur Erlangung der Medusa, d. Autorin] dirigierte ich aus der
Finsternis. Erst hat uns die Gewalt getrennt, dann die Erde.“
## Gewalt als Wegbegleiter
Gewalt begleitet Neruda auch in den Tod. Als am 11. September 1973 General
Augusto Pinochet gegen die demokratisch gewählte Regierung von Nerudas
Verbündetem Salvador Allende putscht, ist Neruda 69 Jahre alt und schwer
krank.
Militärs durchsuchen sein Haus in Isla Negra, verwüsten das in Santiago.
Matilde Urrutia bringt Neruda in eine Klinik nach Santiago. Zwölf Tage
danach stirbt er.
Die Häuser werden später in den Besitz einer Stiftung überführt. Sie sind
zwar für den stetig größer werdenden Strom der Touristen herausgeputzt,
aber vor allem in der Nebensaison Orte, die es zu entdecken lohnt.
16 Mar 2013
## AUTOREN
Eva Völpel
## TAGS
Chile
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Mord
Poesie
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