# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Handgranaten für Prag | |
> Der Regisseur Woody Allen, der russische Revolutionär Bakunin und der | |
> Komponist Richard Wagner sind Verwandte im Geiste. Warum? | |
Bild: Woody Allen: Nicht in Polen, sondern in Spanien. Und er hört womöglich … | |
Lieber Woody Allen! | |
„Immer wenn ich Wagner höre, überkommt mich das Bedürfnis, in Polen | |
einzumarschieren!“ Das haben Sie gesagt, es ist schon lange her, ich weiß. | |
Aber es ist noch immer der schönste wagnerfeindliche Satz, den ich kenne. | |
Wahrscheinlich haben Sie neulich den Spiegel nicht gelesen. Auf dem | |
Titelbild war der Komponist zu sehen, einen feuerspeienden Drachen im Arm. | |
Die Titelgeschichte ist von genau dieser intellektuellen Prägnanz: „In | |
Hitler steckte auch ein Wagner, und deshalb steckt in der Erinnerung an | |
Wagner auch ein Hitler.“ Richard Wagner war ein halbes Jahrhundert tot, als | |
Hitler an die Macht kam. Es ist einer jener Artikel, nach denen man dümmer | |
ist als vorher. Und wieso nennt er ihn „das wahnsinnige Genie“? | |
In der DDR haben wir gelernt, dass Friedrich Nietzsche der Philosoph des | |
Nationalsozialismus war. Der denkbar größte Verächter des Typus Adolf | |
Hitler, dieser Anti-Antisemit schlechthin, als Denker des Führers! Wer | |
nichts weiß, muss alles glauben. „Es gibt keinen Schutz vor geistigem | |
Missbrauch“, hat ein Mann gesagt, der nie in Verdacht stand, irgend | |
jemanden oder irgend etwas zu beschönigen: Theodor W. Adorno. Nach diesem | |
Satz erst beginnt alles Denken. Bitte entschuldigen Sie die Abschweifung! | |
Was geht Sie der Spiegel an? Wir wollten über Polen reden. | |
## Ohne Wagner nach Polen | |
Kennen Sie Michael Bakunin, den Anarchisten, der die Schweiz zum | |
Kommunismus bekehren wollte? Er hat mit der Philosophie ungefähr die | |
gleichen Erfahrungen gemacht wie Sie. Als er Hegel kannte, wurde er | |
Anarchist – und Sie wurden Woody Allen. Das ist, glaube ich, ungefähr das | |
Gleiche. Nun gut, Bakunin war Russe, nicht Pole, aber er wollte 1848 Polen | |
befreien, gemeinsam mit der polnischen Bauernarmee, von Posen aus. Leider | |
hatte die preußische Armee den Aufstand gerade niedergeschlagen, als er in | |
Posen ankam. Also zog er weiter nach Prag: Gemeinsam mit den Tschechen | |
gegen die österreichische Fremdherrschaft! Doch nach fünf Tagen war alles | |
vorbei; Bakunin musste untertauchen, er floh nach Dresden. | |
Dort war zu diesem Zeitpunkt der 36jährige Richard Wagner Königlich | |
Sächsischer Hofkapellmeister. Wenige Monate später machte dieser etwas, das | |
Hofkapellmeister nur ganz selten tun. Er gab beim Dresdner Gelbgießer Oehme | |
eine beträchtliche Anzahl von Handgranaten in Auftrag: bestimmt für Prag, | |
für den nächsten Befreiungsbesuch der tschechischen Brüder und Schwestern. | |
Der Slawe, das hatte Bakunin seinem neuen Freund Wagner in langen Nächten | |
begründet, sei die Hoffnung der Zukunft. Denn bei ihm habe sich am reinsten | |
ein Grundzug „naiver Brüderlichkeit“ erhalten. | |
Wagner schrieb schon seit Monaten statt Noten politische Aufsätze. „Der | |
eigne Wille sei der Herr des Menschen, die eigne Lust sein einzig Gesetz, | |
die eigne Kraft sein ganzes Eigentum, denn das Heilige ist allein der freie | |
Mensch, und nichts Höheres ist denn Er“, lasen die erstaunten Dresdner zu | |
Ostern 1849 in den Volksblättern. | |
## Kein Sinn für Selbsterhaltung | |
Wenige Wochen und eine missglückte sächsische Revolution später wurden die | |
Häftlinge der Festung Königstein Bakunin und Wagners Musikdirektor August | |
Röckel zum Tode verurteilt. Einer fehlte: Wagner. Durch einen aberwitzigen | |
Zufall entging er der gemeinsamen Verhaftung – dem gemeinsamen Todesurteil. | |
Lieber Woody Allen, was ich sagen will, ist: Es geht nicht. Es ist | |
unmöglich, mit Richard Wagner in Polen einzumarschieren. | |
Handgranaten für die nächste panslawische Erhebung ordern: ja. Sonst | |
nichts. Doch offenbart der Musikant nicht dennoch und gerade deshalb eine | |
höchst bedenkliche Persönlichkeitsstruktur? Kein Künstler von seinem Rang | |
hat sich derart selbst riskiert. | |
Jeder Buchhalter hätte seine Nichtteilnahme an der Revolution mit dem | |
plausibelsten aller Gründe vertreten können: Er habe eine Stellung zu | |
verlieren. Der Künstler aber – Sie wissen es, Wagner wusste es – hat nicht | |
einmal eine Stellung in der Welt. Es sei denn, er wurde Hofkapellmeister. | |
Und Wagner wusste aus seinen Pariser Hungerjahren genau, was Not ist. Keine | |
Frage, Menschen mit so wenig Sinn für Selbsterhaltung sind gefährlich. | |
Vielleicht hat Richard Wagner niemanden mit so großer Zärtlichkeit | |
beschrieben wie den panslawischen Anarchisten Bakunin, den Oberfeuerwerker | |
der Dresdner Revolution. Und hat ihn bis zum Schluss verteidigt: | |
gewissermaßen wie seine eigene Seele. Demnach eine Anarchistenseele? | |
Nicht zufällig sind Bakunins und Wagners Freiheitsbegriff so ähnlich, ist | |
ihr Hauptfeind der Spießer. Abneigung, ja Hass gegen alle Menschen, die | |
sich nirgends wohler fühlen als in ihren eigenen Umrissen, im Behagen an | |
ihren kleinen Zielen, kurz der ganzen Philister-Apotheose der eigenen | |
Endlichkeit, des Egoismus. | |
## Jubel für den Untergang | |
Aus der Knechtschaft des Adels übergehen in die sich vor Wagners Augen | |
befestigende Knechtschaft des Geldes? Für ihn war das ein unendlicher | |
Irrtum. Was er nicht bedachte: Wie viele neue, auch mörderische Irrtümer | |
die Abwehr eines Irrtums in sich schließen kann. | |
Seltsamerweise denke ich Sie und Wagner ohne Probleme zusammen. Weil Ihr | |
Witz und seine Musik aus derselben Wurzel kommen: der Einsicht in unseren | |
Status der Unerlöstheit. | |
Eigentlich wollte ich Ihnen nur etwas über Bakunin erzählen und sagen, dass | |
es kein Untermenschentum gibt beim früheren Königlich-Sächsischen | |
Hofkapellmeister. Die Urfassung des „Ring“, „Siegfrieds Tod“, entstand | |
übrigens in den Tagen der Revolution. Es ist doch nicht ohne Pointe, dass | |
die Deutschen der Gründerzeit des Deutschen Reichs eine Oper bejubeln, die | |
ihren eigenen Untergang zum Thema macht. | |
Am Vorabend der Dresdner Aufstands hatte Wagner Beethovens IX. Sinfonie | |
dirigiert, den Soundtrack zur Revolution. Und Bakunin, der sich eigentlich | |
hätte verstecken müssen, trat ganz offen zu ihm ans Pult und versprach, | |
dieses Stück Musik aus dem kommenden Weltbrand zu retten. | |
Die Revolution sprengt das principium individuationis, genau wie die Musik. | |
Nur: Die Musik überdauert länger. | |
2 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Kerstin Decker | |
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