# taz.de -- Das Schlagloch: Die Welt als Bahre | |
> Ist die gewerbliche Suzidhilfe ein legitimes Geschäft oder eine Straftat? | |
> Warum die FDP niemals Friedrich Nietzsche verstehen wird. | |
Bild: Die FDP will verhindern, dass aus der Verzweifelung von Menschen ein Gesc… | |
Viele sterben zu spät, und Einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die | |
Lehre: ,Stirb zur rechten Zeit!‘ “ | |
So beginnt das Kapitel „Vom freien Tode“ in Friedrich Nietzsches | |
„Zarathustra“. Was will dieser Autor uns sagen? Er kann noch deutlicher | |
werden: „Viel zu Viele leben und viel zu lange hängen sie an ihren Ästen. | |
Möchte ein Sturm kommen, der all dies Faule und Wurmfressne vom Baume | |
schüttelt!“ | |
Es ist kaum jemand denkbar, der von der mittleren Geisteslage der Gegenwart | |
weiter entfernt wäre als dieser irgendwie noch immer populärste Philosoph, | |
der allem, was wir human nennen, so offen ins Gesicht zu schlagen scheint. | |
Den dunkelsten aller möglichen Sonntage im Rücken, den Totensonntag, | |
debattiert der Bundestag morgen den „Gesetzentwurf zur Strafbarkeit der | |
gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung“. | |
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger begründete ihn so: „Als Erwerbsmodell | |
würde Suizidhilfe sonst zur gewöhnlichen, auf Ausdehnung angelegten | |
’Dienstleistung‘, die Menschen dazu verleiten kann, sich das Leben zu | |
nehmen, obwohl sie das sonst vielleicht nicht getan hätten.“ Es klingt | |
nicht gerade wie ein FDP-Satz. | |
## Infantile FDP-Sätze | |
In FDP-Sätzen sind Menschen nicht Verleitbare, sondern selbstbestimmte | |
Verteidiger der eigenen Freiheit, das gibt der FDP-Prosa ihren mittleren | |
illusionär-infantil-heroischen Charakter. Aber vielleicht hat die | |
Justizministerin hier nur unglücklich formuliert? | |
Die Entscheidung über das eigene Ende ist größer als jeder Einzelne, darum | |
kann nur er darüber befinden, auch als Verleitbarer. Hört sich an wie ein | |
Paradox. Ist ein Paradox. Paradoxe lassen sich rechtlich schwer regeln, | |
diese Erfahrung musste auch die Justizministerin machen. | |
Zu verhindern, dass aus der Verzweiflung von Menschen ein Geschäftsmodell | |
wird, ist wahrscheinlich eine gute Absicht. Aber wie es unter Strafe | |
stellen? „Als abstrakt das Leben gefährdende Handlung“, sagt der | |
Gesetzesentwurf. Wer einmal zu regeln beginnt, muss weitermachen, der muss | |
auch an die möglichen Begleiter des – sagen wir – Verleitbaren denken, | |
weshalb ein zweiter Absatz eingefügt wurde: | |
„Angehörige oder andere dem Suizidwilligen nahestehende Personen, die sich | |
lediglich als nicht gewerbsmäßig handelnde Teilnehmer an der Tat | |
beteiligen“, sollen straffrei bleiben. Die Formulierung löste Entrüstung | |
aus. Und wäre eine ehrenamtliche Förderung der Selbsttötung unbedenklich, | |
wenn die gewerbsmäßige strafbar ist? | |
Skeptiker meinen gar, Leutheusser-Schnarrenberger wolle den assistierten | |
Suizid gesellschaftsfähig machen. Es wird nicht einfach sein morgen im | |
Bundestag, aber eines zeigt schon die Debatte im Vorfeld der Debatte: Diese | |
Gesellschaft, die die Autonomie des Menschen als absoluten Wert betrachtet, | |
kommt in schwere Verlegenheit, wo sie den Punkt berührt, wo alle Autonomie | |
endet. Sie umstellt ihn mit Bürokratie, mit Paragrafen. Ob noch jemand | |
wagt, ohne Patientenverfügung zu sterben? | |
## Nietzsches Hohn | |
Wahrscheinlich hätte Nietzsche nur Hohn für uns gehabt. Dabei war er | |
gewissermaßen der Erste, der erkannte, dass ein selbstbestimmtes Leben das | |
Problem eines selbstbestimmten Todes einschließt. Dass wir nicht mehr | |
Selbstmord sagen – oder doch, wir sagen es noch, meinen aber nicht „Mord“ | |
–, geht nicht zuletzt auf ihn zurück. Ebenso, dass wir das neue Wort dafür | |
haben, das die Freiheit in den Tod hineinnimmt: Freitod. Das | |
„Zarathustra“-Kapitel heißt „Vom freien Tode“. | |
„Viele sterben zu spät …“ Wer das liest, erfriert leicht von innen, möc… | |
Einspruch erheben. Dem Autor selbst ging es wohl nicht anders. Vielleicht | |
ist es nicht unwichtig, dass Friedrich Nietzsche keineswegs wusste, ob er | |
sich selbst überstehen würde, als er diese Sätze zum Jahresbeginn 1883 | |
schrieb. Sie stammen gewissermaßen von einem Selbstmordkandidaten. | |
Die bloße Tatsache, dass es uns gibt, spricht noch nicht für uns, glaubte | |
er. Vielleicht versteht man einen Menschen am besten aus dem, was ihn am | |
meisten aufbringt. Und das war in Nietzsches Fall die Angewohnheit der | |
meisten, mehr oder weniger aus Gewohnheit zu existieren. Daher seine | |
spezifische Grausamkeit: „Freilich, wer nie zur rechten Zeit lebt, wie | |
sollte der zur rechten Zeit sterben?“ | |
Ihm ging es um das Recht aufs Leben, nicht um das aufs Sterben. Aber das | |
ist nicht der einzige Unterschied zwischen Nietzsche und | |
Leutheusser-Schnarrenberger. Hier geht es um Gesetzgebung, dort um | |
Selbstgesetzgebung. Das ist kein geringer Unterschied. Erstaunlich ist nur, | |
dass uns Gesetzgebung vollkommen plausibel ist, Selbstgesetzgebung aber | |
nicht. | |
## Suizidgedanken als Krankheit | |
Von der Warte der Kirchen her gesehen liegt die Sache klar. Der Mensch hat | |
sein Leben von Gott, also kann er nicht darüber verfügen. Punkt. Aus. | |
Vielleicht ist es gar nicht so, dass moderne Nervensysteme religiös | |
unbedürftiger geworden sind, aber gegen die Anwesenheit Gottes, dieses | |
unbewiesenen Stücks Metaphysik in Aussagen über die Welt, sind sie | |
empfindlich. Und wie stellt sich der Wunsch nach einem vorverlegten | |
Lebensende den metaphysisch Obdachlosen inklusive der Justizministerin dar? | |
Als Krankheitssymptom. Wer aus dem Leben gehen will, ist entweder physisch | |
oder psychisch schwer krank. Also nicht mehr wirklich frei in seinen | |
Entscheidungen. Aber beinhaltet diese Annahme nicht eine maßlose | |
Überschätzung unseres gewöhnlichen Wählens zwischen zwei Übeln? | |
In der letzten Woche hatte am Berliner Deutschen Theater eine | |
Shakespeare-Collage von Dimiter Gotscheff Premiere, das war ein übermütiger | |
Todestanz. Die Anlässe, bei denen Menschen sich bewusst werden, dass sie | |
existieren, können ganz verschieden sein. | |
Große Dichter erkennt man auch daran, dass sie solche Bestürzungen | |
provozieren können: „Die Welt hat keinen anderen Ausgang als die Bahre.“ | |
Das ist mehr als eine Behauptung der Endlichkeit. Heißt das also: Wir, die | |
Nochlebendigen, sind die eigentlich Inhaftierten? Ob die FDP es schon | |
einmal so gesehen hat? Und was Nietzsche betrifft: Ist ein Mensch denkbar, | |
der den Zeitpunkt der letzten Selbstbestimmung furchtbarer verpasst hätte? | |
28 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Kerstin Decker | |
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