| # taz.de -- Das Schlagloch: Erlösung mit Lohengrin | |
| > Warum ein Opern-Grundkurs in Engelskunde einfach unfassbar politisch sein | |
| > kann und was Engel und Hartz IV-Empfänger gemeinsam haben? | |
| Ob es Erlösung gibt, weiß keiner; wir wissen nur, wie sie klingt: A-Dur. | |
| Vierfach geteilte Violinen, kaum hörbar, ganz weit oben, immer höher | |
| schwebend. Ein Vorhang aus Licht. Sie schwellen an, nur leicht, der Klang | |
| wächst, und dann zwei Oboen und zwei Flöten. Der Augenblick, da sie | |
| hinzutreten, ist nicht kritisierbar. | |
| So beginnt „Lohengrin“, Richard Wagners wohl romantischstes Werk, das | |
| soeben an der Deutschen Oper in Berlin guillotiniert wurde. Schweigen wir – | |
| vorerst – von der Inszenierung. Interessant ist, was wir da noch immer | |
| hören. Dass wir es noch immer hören. | |
| „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“, hat Friedrich Nietzsche gesagt und | |
| doch nicht daran geglaubt, dass die Musik, die er liebte – und das war | |
| lange, sehr lange Wagner –, den Späteren überhaupt noch verständlich sein | |
| würde. Ja, man muss das einmal so deutlich sagen: Nicht einmal Wagner | |
| selbst hat es geglaubt, schon gar nicht vom „Lohengrin“, den er im Geiste | |
| bereits beerdigt hatte, als er 1850 doch noch aufgeführt wurde. | |
| Und sogar Hans von Bülow, Freund, Dirigent und Märtyrer im Zeichen Wagners, | |
| rechnete mit dem Verstummen dieser Noten für die Ohren der Nachgeborenen. | |
| Das ist keine nebensächliche Erfahrung. | |
| ## Tote wie Ausrufezeichen | |
| Wer sich spätestens an dieser Stelle fragt, warum er auf einer | |
| Meinungsseite etwas über Richard Wagner und die Erlösung lesen soll, dem | |
| sei versichert: Die Erlösung ist ein unfassbar politisches Thema, | |
| vielleicht gibt es gar kein politischeres. | |
| In Berlin erschien Lohengrin mit Flügeln, mit Schwanenflügeln, die er den | |
| ganzen Abend nicht ablegen durfte. Weil im Stück Krieg vorkommt und auch | |
| ein zeitgenössisches Opernhaus leider eine aufklärerische Anstalt ist, | |
| lagen die Toten gleich zu Beginn wie Ausrufezeichen auf der Bühne. Und weil | |
| dies wiederum keine Opernkritik ist, höre ich jetzt auf. | |
| Philosophen haben früher viel über „Bedingungen der Möglichkeit“ | |
| nachgedacht. Heute machen das auch Nichtphilosophen fast täglich. Welche | |
| Bedingungen mussten erfüllt sein, bis dieser „Lohengrin“ von Kaspar Holten | |
| möglich wurde? Für wen ist er überhaupt? | |
| Die Münchener in der Reihe hinter mir taten mir leid. Und die Japaner | |
| natürlich, die mit mir zwei Minuten vor Beginn aus der U-Bahn gerannt | |
| waren, weil auf allen nur denkbaren Strecken Pendelverkehr verfügt worden | |
| war. Wenn ich eine Empfehlung geben darf: Wenn Sie in die Oper gehen | |
| wollen, rennen Sie hin! Das Gehör wird scharf, der Verstand steht still, | |
| und man ist, wie jeder sein sollte, der Musik hört: vollkommen durchlässig. | |
| Und dazu dieses A-Dur, das den allererstaunlichsten vollkommen empirischen | |
| Beweis antritt: Du bist nicht von dieser Welt! Jedenfalls nur teilweise. | |
| Sonst hören wir das nicht, im allgegenwärtigen Soundtrack des Alltags, aus | |
| dem nicht Musik, sondern nur Stille erlöst. | |
| ## Taube Engel in A-Dur | |
| Könnte es sein, dass das reine Denken ohnehin taub ist, und alles „wahr“ | |
| und „falsch“ gründet nur darauf? Das Hören kennt kein Gegenüber, nicht | |
| Subjekt und Objekt. Ich erinnerte mich angesichts des Flügelmanns, was | |
| Wagner einst in Bayreuth zu Nietzsche gesagt hatte: Augen zu! Das helfe | |
| gegen die Zumutungen von vorn. Aber der Flügel-Mann blieb trotzdem. Es war | |
| auch nicht Lohengrin, sondern der Bayreuther Chef-Beleuchter. | |
| Er stand da, weil der Lohengrin-Sänger am Vormittag beim Arzt war, und | |
| dieser hatte ihm sinngemäß mitgeteilt, wenn er je wieder auf einer Bühne | |
| erscheinen wolle, möge er sich gleich hinlegen. Aber singen konnte der | |
| Lichtobmann nicht. Weshalb am Bühnenrand an einem Pult mit Leselampe ein | |
| nicht mehr ganz reckenhafter Herr fortgeschrittenen Alters harrte, der vor | |
| ein paar Stunden in einer anderen Stadt gefragt worden war, ob er am Abend | |
| etwas vorhabe. | |
| Wenn nicht, so sei er, nun ja, der Erlöser. Zumindest für die Deutsche | |
| Oper. Das Publikum sah das ein wenig anders, vor allem weil es gelesen | |
| hatte, dass der einzige Lichtstrahl in der Verdammnis dieser Inszenierung | |
| ebendieser Lohengrin war, der jetzt stumm im Bett lag, Klaus Florian Vogt. | |
| Noch nie habe ich bei einer Wagner-Oper einen so kurzen Schlussapplaus | |
| erlebt. Das war beinahe schlimmer als gar keiner, und es war auch wieder | |
| sehr ungerecht: Nur Engel sind nie indisponiert. Und nur in Katastrophen | |
| beginnt der Mensch wirklich zu denken, und diese hier währte fünf Stunden. | |
| Wäre uns ohne Bayreuths geflügelten Beleuchter wirklich aufgegangen, dass | |
| das Urbild der großen Engelsflügel wohl Schwanenflügel sind? Und dass es | |
| wahrscheinlich kein Zufall ist, dass Engel als musikalisch gelten? | |
| ## Menschsein ist Unerlöstsein | |
| Fünf Stunden Grundkurs Angelologie. Nach christlicher Vorstellung treten | |
| sie vorzugsweise in Chören auf, auch wenn es sich nur um eine himmlische | |
| Arbeitsbeschaffungsmaßnahme handeln sollte. Schließlich können sie schlecht | |
| von Ewigkeit zu Ewigkeit in den oberen Sphären flegeln wie | |
| Hartz-IV-Empfänger laut FDP in der sozialen Hängematte. Wagner hat wohl | |
| recht, Engel klingen, ganz bestimmt tönen sie sogar in A-Dur. | |
| Aber wahrscheinlich sind sie vollkommen taub. Darum muss Lohengrin Elsa am | |
| Ende verlassen, als sie das Verbot durchbricht und doch nach seinem Namen | |
| fragt. Alles Menschliche ist ihm fremd. Könnte Lohengrin hören, könnten die | |
| Engel hören, müssten sie Menschen werden. Unerlöste also? | |
| Wir Angehörige westlicher Zivilisation glauben, am meisten über die | |
| Conditio humana zu wissen. Oder wissen wir gar am wenigsten über unseren | |
| überaus bedenklichen ontologischen Status? | |
| Nur darf man die grundlegenden Einsichten, die vielleicht nur grundlegende | |
| Offenheiten sind, nicht sofort wieder rahmen. Schon gar nicht in ererbte | |
| Religionen. Möglicherweise ist der Glaube überhaupt die falsche Antwort auf | |
| eine große Offenheit. | |
| Gibt es erlösungsbedürftige Demokraten? Unsere taghelle Religion ist die | |
| Freiheit, unsere irdische Erlösung die Verwirklichung, vorzüglich die | |
| unseres Selbst. Wenn aber Menschsein doch per se Unerlöstsein bedeuten | |
| sollte, müsste man darauf nicht vorbereitet werden? Es ist fahrlässig, die | |
| Einführung in die große Unzulänglichkeit der Existenz allein den Religionen | |
| zu überlassen. | |
| 25 Apr 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Kerstin Decker | |
| ## TAGS | |
| Schlagloch | |
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