# taz.de -- Das Schlagloch: Japaner, Trinker und Ich | |
> Ein Fluchtreflex vor sich selbst? Wie konnte die Evolution das zulassen? | |
> Die am Ich-Gefängnis Leidenden trinken, die anderen sind Touristen. | |
Bild: Ein Japaner betrachtet japanische Schnee-Affen. Wir betrachten Japaner. | |
Die Japaner fotografieren noch immer, vielleicht sogar mehr denn je, aber | |
völlig anders. Wenn sie zum Beispiel in Venedig sind - und das sind sie oft | |
–, fotografieren sie nicht Venedig, sondern sich selbst. Und das mit | |
übermenschlicher Geduld. | |
Immer dasselbe Lächeln, immer der gleiche mutwillige Ausfallschritt ins | |
Offene oder in den Abgrund, endlos wiederholt. Wahrscheinlich sind die | |
jungen Japaner die am meisten narzisstische Spezies des Homo sapiens auf | |
seiner gegenwärtigen Entwicklungsstufe. Ich beobachte mich längst dabei, in | |
Venedig nicht mehr Venedig zu beobachten, sondern die jungen Japaner. | |
Ein Narziss ist der selbstverliebte Mensch schlechthin. Der Narzissmus | |
beinhaltet die strukturelle Weigerung, erwachsen zu werden. Vielleicht | |
müssen wir uns damit abfinden, dass immer weniger Menschen die innere | |
Volljährigkeit erreichen. | |
Aber vielleicht wirken die jungen Japaner in Europa auch nur so | |
befremdlich, weil sie auf ihren optischen Selbsterkundungstouren keine | |
Kostüme tragen. In Japan machen sie das. Nach Feierabend verabschieden sich | |
viele von sich und leben den Rest des Tages als Comicfiguren, als Sakura | |
oder Hinata oder Naruto, Gesandte bunterer Welten, in denen das Lieben und | |
Kämpfen noch lohnte. Kurz, junge Japaner verbringen einen großen Teil ihrer | |
Zeit jenseits der Zumutung, man selbst sein zu müssen. Man nennt das auch | |
Cosplay, also Kostümspiel. Und so gehen sie auch auf die Straße. | |
## Ewig kindlich-staunender Ausdruck | |
Vor allem aber fotografieren sie sich. Auffällig sind die großen Augen der | |
Figuren, ihr ewig kindlich-staunender Ausdruck, wenn ihnen nicht gerade | |
kriegerisch zumute ist. Die bunten Perfektionisten der kindlichen Unschuld | |
verteidigen genau genommen ein Grundrecht - das Grundrecht auf | |
Nichtidentität mit sich selbst. Vielleicht handelt es sich um eine Art | |
spontaner Selbstheilung einer Hochleistungsgesellschaft. Die Japaner | |
brauchen dazu keinen Karneval, die Rheinländer schon. | |
Der Berliner schaut nicht selten mit einer Geste dezenten Mitleids auf | |
seine Brüder und Schwestern am Rhein, die ihre Volljährigkeit nie daran | |
gehindert hat, die Frage jeder Kindheit zu stellen: Wollen wir uns | |
verkleiden? Als was gehst du? | |
Dies ist der Augenblick, um etwas Negatives über den Preußenkönig zu sagen. | |
Liebe Nachfahren Friedrichs II. und Haupterben preußischer Tugenden, kurz: | |
Liebe mentale Nordmenschen! Ihr habt es sehr schwer. Denn ihr habt keine | |
Ahnung, was Kultur ist. Kultur ist zuerst und zuletzt die Bereitstellung | |
von kollektiven Gefäßen für kollektiv anfallende Inhalte. | |
Der Jubilar des letzten Monats und mit ihm die gesamte Aufklärung war der | |
Ansicht, dass es gut sei, wenn sich der Mensch dort aufhält, wo es am | |
unbequemsten ist: ganz nah bei sich. Anwesenheitspflicht: immer, es sei | |
denn, man schläft gut. Es scheint sich nicht nur im Falle Friedrichs um | |
gesteigerten Realitätssinn zu handeln. Die Evolution hat jedes Einzelwesen | |
eingesperrt in sich selbst und es sollte seine lebenslange Gefangenschaft | |
daselbst mit Haltung und Würde ertragen. Jeder stirbt für sich allein! | |
## Zwei Seelen in der Trinkerbrust | |
Der preußische Alkoholiker und Schriftsteller Hans Fallada hat einen seiner | |
bekanntesten Romane so genannt. Am Berliner Gorki-Theater hatte soeben "Der | |
Trinker" Premiere, in der Regie von Sebastian Hartmann mit Samuel Finzi und | |
Andreas Leupold als den zwei Seelen in der Trinkerbrust und Steve Binetti | |
als musikalischer Blindenführer ins Delirium. | |
Natürlich gibt es den Trinker wie jeden anderen Menschen doppelt. Im diesem | |
Fall ist es der Säufer und sein innerer Kritiker. Beide sprechen meist | |
gleichzeitig und sind fast immer verschiedener Meinung – darum ist das | |
Zuzweitsein im Alleinsein hier besonders auffällig. Es ist eine großartige | |
Inszenierung, weil sie in jedem Augenblick weiß, dass die Seele kein | |
Festland, sondern ein Ozean ist und die psychische Normalität eine | |
Konvention, ein jederzeit kündbarer Vertrag mit uns selbst. | |
Was für ein hochprozentiges Fließgleichgewicht aus schwankendem Untergang | |
und Präzision! Ein gut zweistündiges Delirium. Vielleicht sollten alle, die | |
nicht beim Karneval sind, ins Gorki-Theater gehen. Zumal sich die Kritiker | |
den "Trinker" wie einen schlechten Rausch von der Stirn wischten, | |
vielleicht weil sie aus der strukturellen Trockenheit ihrer Seelen einen | |
Beruf gemacht haben. | |
## Die Ich-Deserteure | |
Mag sein, es gibt dringlichere Themen als das Freizeitverhalten junger | |
Japaner, den Karneval und den Alkoholismus. Aber das scheint nur so. Denn | |
es handelt sich um drei Weisen des vorsätzlichen Sichentfernens von sich | |
selbst. Dreimal Desertation vom Ich, carne vale eben, Wohlsein des | |
Fleisches. "Ich bin ganz allein mit mir – in der Hölle", sagt Falladas | |
Trinker. Das ist in der Tat die Quintessenz dieses Ortes. Höllen sind | |
dadurch gekennzeichnet, dass sie keine Ausgänge haben. Höllen mit Personal, | |
Inneneinrichtungen und Temperaturangaben wie die christliche müssen bereits | |
als karnevaleske Ausschmückung gelten. | |
Falladas Trinker will nur noch raus aus sich. Alkoholiker sind Menschen, | |
die es nicht mehr bei sich aushalten. Auch bei Depressiven sind erhöhte | |
Fluchthormon-Konzentrationen nachweisbar. Man hätte es sich denken können: | |
Auch der Mensch ist ein Fluchttier. Aber ein Fluchtreflex vor sich selbst | |
bei mit Selbstbewusstsein begabten Lebewesen? Wie konnte die Evolution den | |
zulassen? | |
Unsere gewöhnliche Einteilung in "krank" und "gesund" ist vielleicht nur | |
ein Vorurteil, eine Denkfaulheit. Denn welche Gruppe besitzt eigentlich das | |
größere Realitätsbewusstsein? Nehmen wir als Prototyp des Gesunden, den | |
Kritiker an, einen Menschen also, der sich jeden Morgen freut, sich selbst | |
endlich wiederzusehen: Was für ein sympathischer Mensch! Und so klug | |
zurechnungsfähig! Jemand also, der nie die Wände seiner Ich-Zelle fühlt. | |
Der Trinker dagegen und seine Verbündeten, die Depressiven und Träumer der | |
Erde bilanzieren nüchtern ihre Situation: lebenslange Einzelhaft. Kein | |
Urlaub vom Ich. Nicht einmal Freigang bei guter innerer Führung! | |
15 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Kerstin Decker | |
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