# taz.de -- Psychische Gesundheit im Finanzsektor: Verrückt sind immer nur die… | |
> In der Londoner City nehmen mit fortschreitender Wirtschaftskrise | |
> psychische Probleme zu. Kein Betroffener würde das offen eingestehen. | |
Bild: Deprimierende Architektur, deprimierendes Geschäft: Blick auf den Eingan… | |
LONDON taz | Die andauernde britische Wirtschaftskrise fordert in der | |
Londoner City, dem wichtigsten Finanzzentrum Europas, einen menschlichen | |
Tribut. Nach Aussagen der Wohlfahrtsorganisation Samariter, die | |
telefonische Hilfe für Menschen in Lebenskrisen anbietet, sind sowohl das | |
Stresslevel als auch die Selbstmordrate angestiegen – und das trifft auch | |
die Finanzbranche. | |
Vor allem der Perfektionismuszwang sei problematisch, heißt es. Und im | |
Finanzsektor ist der Drang zu Perfektion und Höchstleistung besonders hoch. | |
Dennoch gibt es kaum jemanden in der City, der zugeben würde, damit | |
Probleme zu haben. Weder die führende britische gemeinnützige Organisation | |
für psychische Probleme „Mind“ noch die Samariter haben darüber gesicherte | |
Angaben. | |
Man wendet sich in einem so hochbezahlten Sektor bei Problemen nicht an | |
Selbsthilfegruppen oder Hilfswerke. Stattdessen sind die Pubs in der | |
Londoner City am Abend jedes Arbeitstages proppenvoll. So mag es kein | |
Zufall sein, dass es hier jüngst zu einigen spektakulären Selbstmorden kam, | |
mit Todessprüngen von der Dachterrasse einer Bar in der Nähe des London | |
Stock Exchange. | |
Selbstmorde in der City liegen nach Informationen der Polizei der City of | |
London und des amtlichen Leichenbeschauers statistisch nicht höher, als man | |
generell erwarten darf. Doch wie der Psychologe Dr. Simon Whalley sagt, | |
leben die meisten der Angestellten der City woanders und werden daher nicht | |
dort erfasst, wenn sie sich umbringen. Whalley glaubt nicht, dass die | |
Finanzkrise spurlos an der City vorbeigegangen ist. | |
Gewinndrang könne problematisch werden, wenn Finanzmakler durch | |
unvorgesehene Wirtschaftsentwicklungen die Kontrolle über ihre Deals | |
verlieren. Kontrollverlust sei schwer zu verkraften für Angestellte, die | |
extrem lange Arbeitstage haben, einem hohen Erfolgsdruck ausgesetzt und | |
hochintelligent sind. | |
## Keine Schwäche zeigen | |
Dass es heute eher als gesellschaftliches Stigma gilt, ein Banker zu sein, | |
mache das nicht einfacher, so der Psychologe weiter. „Viele, die in der | |
City arbeiten, holen sich keine Hilfe, denn mentale Krankheitszustände sind | |
immer noch verpönt“, so Whalley. „Ich habe gehört, dass Psychotherapie als | |
Zeichen von Schwäche angesehen wird. Und Schwäche muss in der City | |
vermieden werden.“ | |
Insgesamt steigt die Selbstmordrate in Großbritannien. Laut Stephen Platt, | |
Professor für Gesundheitsstrategie an der Edinburgh University in | |
Schottland und Stiftungsmitglied der Samariter, verbucht das Land gerade | |
die höchste Selbstmordrate seit 2004. „Wenn man nur das Jahr 2010 mit dem | |
Jahr 2011 vergleicht, gab es einen Anstieg von 11,1 auf 11,8 pro 100.000 | |
Menschen.“ Eine Studie der Organisation „Mind“ kam zu dem Ergebnis, dass … | |
Prozent aller Befragten Stress in der Arbeit erfahren und dass dieser als | |
schlimmer empfunden wird als jeglicher anderer Stress, etwa Sorgen um die | |
Gesundheit. | |
## Geld gleich Glück | |
Am häufigsten betroffen seien Männer zwischen 30 und 59 Jahren aus sozial | |
schwächeren Gruppen. So gesehen geht es den hochbezahlten Bankern und | |
Finanzangestellten der City blendend. „Geld ist nicht alles, aber Geld | |
hilft“, bestätigt eine Investmentbankerin. | |
„Geld wird hier mit Glücklichsein gleichgesetzt“, sagt Dr. Lisa Wilson von | |
der City Psychology Group, bei der 40 Prozent aller Patienten aus dem | |
Finanzbereich kommen. „Leider merken die Menschen irgendwann, dass Glück | |
schwer zu fassen ist. Ein größeres Haus, Autos, besserer Urlaub, das bringt | |
oft nicht das Glücksgefühl, nach dem Menschen streben. Deshalb können sie | |
sich betrogen fühlen und ihre Lebensziele hinterfragen.“ | |
Viele Insider der Finanzkrise leben in der Illusion, dass Probleme für die | |
anderen da seien. Selbstreflexion ist ihnen fremd. „Ich weiß, dass der | |
Druck groß ist“, sagt ein Finanzangestellter, „aber man muss ihn | |
aushalten.“ Verrückt sind nur alle anderen. | |
27 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn | |
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