# taz.de -- Die Wahrheit: An der Blockstelle | |
> Ein bemerkenswerter Abend in verschiedenen Dimensionen und mit einem | |
> kranken Blockstellenwärter im Obergeschoss. | |
Bild: Stiefsohn des Adoptivkindes: Eugen Egner. | |
Aus der Klavierdarbietung im Konzertcafé Klingenberger wurde nichts, weil | |
der Pianist an Brahms irre geworden war. Liebenswürdigerweise lud uns die | |
Tochter des Blockstellenwärters ein, damit wir an einem der nächsten Abende | |
in der Blockstelle etwas Ähnliches wie Klaviermusik zu hören bekamen. | |
„Mein Vater kann leider nicht dabei sein“, informierte sie uns, als wir | |
eintrafen, „er ist krank und muss oben das Bett hüten.“ Oben? Ich fragte | |
mich, wo das sein sollte, denn im Obergeschoss war doch nur der Signalraum; | |
Gott allein wusste, wo in diesem kleinen Gebäude diese Menschen eigentlich | |
ihre Privatwohnung hatten. Gott wusste sicher auch, was der ganze Unsinn | |
sollte, weshalb wir überhaupt lebten, weshalb es eine Welt und Naturgesetze | |
gab und all das verrückte Zeug. Ich wusste das jedenfalls nicht, aber wer | |
war ich schon! Also fragte ich gar nicht, sondern akzeptierte, dass der | |
Blockstellenwärter oben krank im Bett lag. Mochte es unserer Gesundheit | |
zugute kommen. | |
Die Tochter des Blockstellenwärters saß dann am Harmonium und spielte | |
„Utopien und Autopannen“. An die Wand gelehnt wie alte Bretter, hörten wir | |
zu – ach was, nicht einer lehnte an der Wand, wir saßen wie Affenweibchen | |
in Korbsesseln. | |
Außer mir waren dabei: Ein der Bahn nahestehender Mann, der im selben Hotel | |
wohnte wie ich, einige Leute, die ich nicht kannte, der Zugschaffner und | |
die verkohlte Leiche, die ich nach meiner Ankunft in einer Baumkrone | |
herumlungern gesehen hatte und die sich jetzt als witziger und geistreicher | |
Gesellschafter erwies. Sie erzählte irgendwann eine Anekdote mit dem Titel | |
„Die Kalabrität des Himmels“, doch erwartungsgemäß vergaß ich alles. | |
Beruhigend fand ich, dass niemand zu singen anfing. Zum Glück hielt auch | |
niemand einen Vortrag über Leuchtkörper, obwohl ich für meine Person | |
Leuchtkörper, insonderheit verbotene Glühlampen, innigst liebe. | |
Durften wir so laut sprechen, schlucken und lachen, wenn doch der | |
Blockstellenwärter krank war und uns sicherlich hörte? „Er hört uns nicht�… | |
beruhigte seine Tochter die Anwesenden, „unsere Dimension und seine sind so | |
verschieden wie das Huhn und dessen Zwillingsschwester.“ Mir kam das gar | |
nicht so verschieden vor, doch behielt ich meine Meinung für mich. | |
Der Schaffner wusste, dass der Blockstellenwärter einmal einen Aufsatz zum | |
Thema „Meine Wandlung zum Stellwerk“ hatte schreiben sollen und dass ihm | |
dann nichts eingefallen sei. Zwischendurch fragte mich jemand: „Ist es 14 | |
Uhr?“, und ich antwortete: „Weder noch.“ | |
Alle erzählten irgendetwas, es hatte aber alles keinen Zweck. Als die Reihe | |
an mir war, wurde es peinlich, denn immer wenn ich betrunken bin, will ich | |
meine Familiengeschichte schreiben. | |
„Ich bin so leer“, gestand ich der Tochter des Blockstellenwärters, als sie | |
mich später im dunklen Treppenhaus mit den besten Absichten an die Wand | |
drückte. Ich wollte sie küssen, hatte aber keine Ahnung, wie so etwas ging, | |
deshalb warf ich Dinge zu Boden. Das konnte ich immerhin. Es gab mir das | |
Gefühl, jünger zu sein. | |
14 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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