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# taz.de -- Sphären&Szenen: Der Teppich als Geburtskanal
> Mit Alexander Giesches berührerendem visual poem „Der perfekte Mensch“
> nähern sich im Bremer Schauspielhaus die säuberlich getrennten Sphären
> von Freier Szene und Stadttheater einander an
Bild: Perfekt: In einer unfassbar virtuosen Videoprojektion verschmelzen bunte …
BREMEN taz | Der Blick in den Spiegel verrät so viel. So lässt sich
beobachten, dass, während die Presseleute bei der Premiere des visual poem
„Der perfekte Mensch“ im Bremer Theater das Publikum auf bekannte Gesichter
hin scannen, eine noch größere Zahl ZuschauerInnen die eigene Haltung prüft
und die eigene Mimik: Es sind viele Ensemblemitglieder gekommen zur
Produktion des „Artist in Residence“.
Der ist Alexander Giesche. Und Giesche gilt als eins der großen Talente der
Freien Szene: Seine Performance „Record of Time“ war 2011 auf den
einschlägigen Festivals von München über Aarhus bis Paris zu sehen, bevor
sie in Hamburg den Körber-Preis bekam. Studiert hat der 30-Jährige erst
angewandte Theaterwissenschaften in Gießen, wie fast alle, die auf den
deutschen Bühnen in den vergangenen 15 Jahren für Umbrüche gesorgt haben.
Den Master will er an der Amsterdamer DasArts-Hochschule ablegen, pausiert
jetzt aber zwei Jahre – für den Job in Bremen. Seine Rolle dort lässt sich
fassen als die eines Agenten von Intendant Michael Börgerding – schau an!,
so weit hinten drückt er sich rum – und dessen Chefdramaturgen Benjamin von
Blomberg, das ist der nette Schlaks auf dem zentralst-möglichen Platz.
Zu deren leider etwas unpopulären Zielen zählt es, die oft frappierend
sauber getrennten Sphären von einerseits Stadt- und Staatstheater, wo
Schauspiel vorherrscht und andererseits der „freien Szene“ mit ihrer
Orientierung an den performing arts. Und Giesche, der im Laufe der ersten
Spielzeit eine Reihe öffentlicher „Einzelgespräche“ mit SchauspielerInnen
hatte – da kippte das Gespräch auch mal abrupt ins stumme Abrollen einer
Toilettenrolle – sorgt mit „Der perfekte Mensch“ dafür, dass im Bremer
Schauspielhaus ein mannigfaltig theaterinteressiertes Publikum nun vor gut
dreieinhalb Meter hohen, 20 Prozent-Alu-bedampften Scheiben in
Fichtenrahmen sitzt: Je nachdem, von wo das Licht kommt sind sie
durchsichtig wie Fenster oder, wie jetzt, vollkommene Spiegel.
Entworfen hat sie Bühnenbildnerin Nadia Fistarol, direkt vor die erste
Sitzreihe geschoben haben sie die vier Ensemblemitglieder Anemaaike Bakker,
Karin Enzler, Justus Ritter und Andy Zondag, und das ins Orange
changierende Licht von hinten zwingt dazu, das Bild wahrzunehmen, das man
selbst ist und von dem sich nur schwer sagen lässt: Schmerzt es, weil es so
platt ist – oder nennt man’s platt, weil es nach wie vor so weh tut.
Denn ja: Dem Publikum den Spiegel vorzuhalten, ist weiß Gott kein
origineller Einfall. Aber effizient: Der Spiegel bringt die ZuschauerInnen
ohne viel Gerede dazu, sich zu verhalten, unangesprochen angesprochen, sie
räkeln sich, blicken verschämt zu Boden oder frech durch die Reihen, lauter
unterschiedlich gebildete Ichs, darunter sicher auch solche, die den
Begriff der Performance doof finden, weil früher haben wir schließlich
Aufführung dazu gesagt. Menno.
Und stopp. Das ist eine Verwechslung. Denn Performance und Aufführungen
sind zwei miteinander verschränkte, und doch gegensätzliche Facetten der
Welt des Theaters. So meint Performance nicht die Realisierung eines
Textbuchs, sondern verstrickt idealerweise Bühnenpersonal und Publikum in
die Realisierung einer Wirklichkeit, die es nur durch sie gibt. Statt um
Bewahrung von Literatur durch ihre Verkörperung geht es bei dieser Form um
Besetzung des Raums – durch zeichenhafte Körperlichkeit, Klänge und Bilder.
Und es ist eine fast zwingend-kluge Strategie, das traditionell
dichtkunstlastige Stadttheater – in Bremen steht die Kiste am Goetheplatz!
– damit zu konfrontieren: Es kann darin seine eigenen Möglichkeiten
entdecken, sich verjüngen – vielleicht sich verbessern.
Mögen muss man das nicht, aber einen Grund, motzig in der ersten Reihe vor
sich hin zu starren, gibt’s jetzt auch nicht: Es ist möglich, über die
Bilder und Situationen, die Giesche mit den vier Akteuren, den
Scheibenmodulen, einem markanten Zitat aus Leos Carax’ Film „Holy Motors“
und dem Licht komponiert, nachzudenken, es lässt sich über sie lachen,
staunen und auch sich ärgern. So ist die Lakonie, mit der Zondag, nachdem
er sich per Akkuschrauber und Klebeband einen Bereich auf der Bühne
eingerichtet hat, ohne weitere Erklärung furztrocken das Posing von
Klamottenwerbung nachstellt, radikal witzig.
Und während sich noch darüber streiten ließe, ob Giesche nicht zu viel
Angst hat, sich festzulegen – statt im weiten assoziativen Feld von
Theologie über Gothic Novel bis zur Neurochirurgie einen Pflock
einzuschlagen, triggert der Abend den Modediskurs an, bleibt aber sonst
unverbindlich – nerven die Headsets eindeutig: Die tendenzielle
Zersplitterung der Einheit von Körper und Stimme, die Lautsprecher von
links oder rechts ins Volk blasen, ist zu stark, um nicht zu stören, und zu
schwach, um eigenständig Bedeutung zu entfalten, wie es die optische
Multiplikation der Figuren tut.
Aus der speist sich das packendste Bild des Abends: Eine unfassbar
virtuose, kaleidoskophafte Videoprojektion der ineinander verschmelzenden
Performer-Körper, gebeamt auf den weichen weißen Teppich mitten im Raum.
Auch die Idee, Enzler sich selbst aus den Falten herauspressen zu lassen
wie ein Baby aus dem Geburtskanal, lässt staunen, mehr noch vielleicht als
die fragile Poesie, die Bakker einer Liste von Parfumnamen entlockt.
Die scheint schier endlos: Volle 13 Minuten kostet Bakker jeden einzelnen
Namen aus, keiner ist erfunden. Und man meint, seinen Duft wahrzunehmen,
lauscht ihm nach – und lässt ihn irgendwo zwischen Konsumwahn, -rausch und
-kritik verweh’n, wie ein flüchtiger Gedanke, ein Traum – von Perfektion.
## Bremer Theater, Schauspielhaus, Termine: 23. 5., 11. 6., 20 Uhr sowie
21. 6. um 22 Uhr
16 May 2013
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
Benno Schirrmeister
## TAGS
Theater Bremen
Performance
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