| # taz.de -- Comeback der Armbanduhr: Als uns die Uhren verließen | |
| > Die gute alte Armbanduhr verschwand in der Schublade, während die Zeit | |
| > immer drängender wurde. Nun droht ein Comeback. | |
| Bild: Eher gestrig: die Armbanduhr. | |
| Eine eigene Uhr zu haben – wie der Vater, wie die Mutter –, das war für | |
| Heranwachsende noch in den siebziger und achtziger Jahren ein Ausweis von | |
| Autonomie, ein vorzeigbarer Beleg des In-der-Welt-seins. Digital waren | |
| diese Uhren meist, klobig und silberfarben, mit knubbeligen Knöpfen | |
| versehen. Oft piepsten sie einmal in der Stunde, um lästig das | |
| Voranschreiten der Zeit kundzutun. | |
| Diese Uhren tickten nicht anmutig, sie trieben eher wie ein umgekehrter | |
| Countdown nach vorne: mehr Leistung, mehr Produktivität. Schneller, besser | |
| – „du musst“. Ihr Tun verrichteten diese Instrumente am Handgelenk, direkt | |
| am Puls. | |
| Die klassische Armbanduhr war zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem | |
| Rückmarsch, allein die Schweizer Marke Swatch vermochte es, der Uhr mit | |
| Zeigern und Ziffernblatt zu einem mittleren Revival zu verhelfen. | |
| Quietschbuntes Plastik statt kühles Metall, irre Muster und Motive – es | |
| waren die Achtziger. In alternativen Kreisen galt es schon zu dieser Zeit | |
| allmählich als unschicklich, überhaupt eine Uhr zu tragen, galt sie doch | |
| als Symbol für Karrierismus, unmenschliches Effizienzdenken und | |
| Anpassungsbereitschaft. Die Uhr war nicht mehr selbstverständlich, und nur | |
| wenig später, in den Neunzigern, begann ihr eine andere Gerätschaft | |
| endgültig den Garaus zu machen: das Mobiltelefon. | |
| Das „Handy“ wurde in kurzer Zeit zur neuen Taschenuhr – und so ist es ja | |
| bis heute. Fragt man jemanden auf der Straße nach der Uhrzeit, so beginnt | |
| dieser mit Sicherheit erst mal zu kramen. In Hosentaschen, Rucksäcken, | |
| Jutebeuteln – wo ist das Gerät bloß? | |
| Und man muss, so man kein eigenes Mobiltelefon mit sich führt, die Leute | |
| auf der Straße nach der Uhrzeit fragen, wenn man sie braucht, denn auch die | |
| Uhren an öffentlichen Plätzen verschwinden, weil die „öffentliche Hand“ | |
| immer weniger Geld in selbige nimmt, um diese instandzuhalten. Wer keine | |
| Lust hat, fremde Menschen anzusprechen, muss sich eine Parkuhr mit | |
| Uhrzeitanzeige suchen. Der unauffällige Blick in ein parkendes Auto hilft | |
| nämlich schon lange nicht mehr: Auf dem Armaturenbrett prunkende Uhren | |
| findet man nur noch bei luxuriösen Gefährten, die mit Hilfe von leise | |
| klickenden Minuten- und Sekundenzeigern Enthobenheit signalisieren möchten. | |
| ## Sie sind Getriebene | |
| Die fette Uhr, der prangende Chronograf – wenn überhaupt, dann ist die | |
| klassische Uhr am Handgelenk heute ein luxuriöses Accessoire mit | |
| nebensächlichem Nutzfaktor, für den Herrn in Klotzig-teuer, für die Dame in | |
| Filigran-teuer. Einen Zeitmesser im eigentlichen Sinne mit sich zu führen, | |
| symbolisiert eher Zeit zu haben, als dieser hinterherrennen zu müssen. | |
| Während all jene, die ostentativ auf einen solchen verzichten und sich in | |
| der Illusion wähnen, frei und unabhängig zu sein, in Wahrheit längst | |
| Getriebene sind. Also solche, die beständig arbeiten müssen. | |
| An Schreibtischen mit Desktop-PCs, Uhrzeitanzeige oben rechts. Unterwegs | |
| mit dem Smartphone, Uhrzeitanzeige im Display. Am Abend zu Hause – auf der | |
| Couch oder im Bett – mit dem Laptop, Zeitanzeige sowieso auf der | |
| Benutzeroberfläche. Galt früher der Blick auf die Uhr während eines | |
| Gesprächs schon als unhöflich, so ähnelt heute ein gemütliches | |
| Beisammensein im Freundeskreis eher einer multimedialen Schaltkonferenz. | |
| Statt eines verstohlenen Blicks auf die Uhr werden nunmehr Mails verfasst, | |
| SMS geschickt und Facebook-Einträge verfasst. Es fiept, blinkt und vibriert | |
| in den Hosentaschen, auf den Tischen und in unseren Köpfen. Und die Uhr | |
| läuft. | |
| Derweil pirscht sich die Armbanduhr auf Umwegen zurück an unsere | |
| Handgelenke, und zwar in Gestalt eines Retro-Wolpertingers, einer Kreuzung | |
| aus Fieps-Digitaluhr und Pop-Swatch. Quietschbunte Plastikuhren mit | |
| Digitalanzeige schlackern lose und in den Farben Türkis, Pink, Orange und | |
| Hellrot an den Armen jener, die sich modischen Umtrieben verpflichtet | |
| fühlen. Es gibt sie von Armani, man kann sie aber auch zum Preis von fünf | |
| bis zehn Euro beim fliegenden Händler auf den Balearen erwerben – passend | |
| zum Outfit. Sie soll ja gar nicht „wertig“ sein, sondern Spaß machen. | |
| Womöglich nur eine mehr von vielen Retrogrillen unserer Zeit, in der die | |
| Vergangenheit wie ein Bumerang der stetigen Wiederkehr verpflichtet ist. | |
| Oder doch mehr? Ein ernsthafter Anschlag auf unsere Handgelenke wird | |
| derzeit von Kalifornien aus geplant. Die iWatch nämlich. Erste Gerüchte, | |
| dass Apple plant, eine Hightech-Armbanduhr auf den Markt zu bringen, | |
| dräuten schon vor zwei bis drei Jahren, doch seit Beginn dieses Jahres wird | |
| der Dampf in der Gerüchteküche immer deutlicher sichtbar, auch wenn von | |
| Apple selbst noch keine Stellungnahme erfolgt ist. Stattdessen kursieren im | |
| Netz Bilder einer italienischen Designstudie: ein kleiner, rechteckiger | |
| Klotz in der gewohnten Apple-Optik. Die Uhrzeit wird digital angezeigt. | |
| Wer, wenn nicht Apple wäre in der Lage, der Menschheit ein Gerät im | |
| wahrsten Sinne des Wortes anzuhängen, von dem sie glaubt, es nicht (mehr) | |
| zu brauchen? | |
| Längst gewöhnt hat man sich an Menschen, die scheinbar Selbstgespräche | |
| führen, obwohl sie eigentlich gerade über Lautsprecher mit jemandem | |
| kommunizieren und dabei durch die Gegend rennen, ohne etwas in der Hand zu | |
| halten. In Zukunft wird sich die Menschheit eben seltsam verrenkt im | |
| öffentlichen Raum bewegen, also am Armgelenk herumfummelnd. Termine | |
| checken, Mails versenden, Verspätungen ankündigen. In diesem Zustand ist er | |
| dann wieder eins mit der Zeit. Tröstlich allein, dass die Rückkehr des | |
| „Müssens“ direkt an den Puls uns ganz bestimmt als ein „Können“ verka… | |
| werden wird, marketingtechnisch. | |
| 20 May 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Reichert | |
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