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# taz.de -- Die Wahrheit: Studien in der Schlange
> Nach zwanzig Minuten brach sie in die Knie, warf flehend die Arme in die
> Höhe und beschwor jammernd den Warteschlangengott.
Bild: Vorsicht! Diese Tasche fordert zum Schlimmsten auf.
Nirgendwo offenbart sich die Persönlichkeit des Mitmenschen rückhaltloser
als in der Warteschlange. Vor einem Jahr, nach langer Abwesenheit frisch
aus den rücksichtsvollen „First come, first serve“-USA in Berlin
eingetroffen und noch nicht wieder an die rauen Sitten beim deutschen
Schlangestehen gewohnt, harrte ich an einer ökologisch korrekten
Biomarktkasse aus, als in meinem Rücken unbemerkt eine zweite öffnete.
Woraufhin die Frau hinter mir, die sich gerade noch erkundigt hatte, ob ich
auch wirklich anstehe, an diese Kasse eilte. Auf meine verwunderte Frage,
warum sie mich, die ich doch schon viel länger wartete, nicht darauf
aufmerksam gemacht hatte, entlud sich schrille Empörung: „Also, das ist ja
unglaublich! Dafür bin ich doch nicht zuständig!“ Stimmt, war sie nicht,
steht nicht im Strafgesetzbuch. Wäre aber eine Geste der Freundlichkeit
gewesen.
Seitdem widme ich mich beim Füße-platt-und-Rücken-krumm-Stehen ausgiebigen
Wartestudien. Besonders gut eignen sich natürlich Orte, an denen bereits
ein gerüttelt Maß an Grundstress herrscht – wie Supermärkte in Wohngegenden
mit hohem Kinderaufkommen, wo die Kleinen während des Wartens rumnörgeln
und Regale verheeren und Eltern ihre unendliche Langmut unter Beweis
stellen: „Arthur, Esmeralda, bringt das bitte wieder zurück, Mama hat schon
Joghurt …“
Und dann stelle ich mir eine Expertengruppe vor, so ein Kolloquium von
Warteschlangenentwerfern, die, über allem schwebend, murmelnd die Köpfe
zusammenstecken: „Da, da drüben, da könnte man doch noch einen super
Engpass …“
Ab und zu beschert einem der Alltag eine unvorhersehbare Warteschlange.
Meist lautet die Ursache: „Desorganisierte Person hält den Betrieb auf.“
Diese Person bin üblicherweise ich. In Ermangelung einer Ablagefläche
parkte ich neulich im Dromarkt meine garagengroße Tasche, aus der ein unter
meinem halben Hausstand verschüttetes Portemonnaie hervorgekramt werden
musste, kurzerhand im Einkaufskorbstapel neben der Kasse. Als ich ihn
gefühlte zehn Minuten später unter Entschuldigungen wieder freigab, zog
eine ältere Dame lächelnd einen Korb heraus: „Schon gut, ich wollte sie
nicht unter Druck setzen.“ Ich war sprachlos. Geduld! Freundlichkeit!
Selbstverständlich gibt es Menschen mit schwächeren Nerven, die längeren
Prüfungen einfach nicht gewachsen sind. So wie die gepeinigte Motorradbraut
in Lederklamotten und Cowboystiefeln kürzlich auf der Postfiliale in der
Marienburger. Nach zwanzig Minuten brach sie in die Knie, warf flehend die
Arme in die Höhe und beschwor jammernd den Warteschlangengott: „Nu steeeh
ick hier und waaarte und waaarte, und mein Leeeben zieht an mir
vorbeiiiiii!“
So ist es. Während unser Leben an uns vorbeizieht, warten wir. Darauf, dass
das Hochwasser abzieht. Dass der Sommer kommt. Auf die nächste Fußball-WM.
Auf die Liebe. Auf Ferien. Auf den Deckel zu unserem Topf. Darauf, dass
alles besser wird. Aber vor allem: auf mehr Gesten der Freundlichkeit.
6 Jun 2013
## AUTOREN
Pia Frankenberg
## TAGS
Einkaufen
Toskana
Krankheit
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Ostsee
Besuch
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Warnstreik
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