# taz.de -- Die Wahrheit: Sandsack in Plüsch | |
> Investoren sehen im Hochwassertourismus einen Wachstumsmotor, der die | |
> Überschwemmungsgebiete nach der Flut auf Touren bringen wird. | |
Bild: Neues vom Sandsacktourismus. | |
„Das ist eine Riesenchance für die Region“, ruft Dietmar Rodenberg das | |
Mantra aller Investoren in die Turnhalle des kleinen Örtchens Prötnitz im | |
Norden Sachsen-Anhalts. Allerdings spricht er es „Schangxe“ aus, weil | |
Rodenberg aus dem rheinischen Solingen kommt. Vielleicht ist die Aussprache | |
aber auch schon eine Verbeugung vor den chinesischen Partnern, die | |
Rodenberg gerade mit ins Boot geholt haben will. | |
Ein paar Prötnitzer seufzen. Die Redensart „ins Boot geholt“ ist wohl etwas | |
unbedacht gewählt, immerhin sind nicht wenige Bewohner unlängst ebenfalls | |
ins Boot geholt worden, wenn auch bloß vom Technischen Hilfswerk. | |
Aber Rodenberg schwadroniert unverdrossen weiter: Seit die Chinesen mit an | |
Bord seien, schwimme er gewissermaßen im Geld. Finanziell sei das für sein | |
Projekt der Dammbruch gewesen, verkündet er stolz. | |
Bei dieser Vokabel nun geht ein Schluchzen durch den Raum, denn seit einem | |
Dammbruch steht das Wasser mannshoch in der Prötnitzer Niederung und hat | |
große Teile des Dorfes unbewohnbar gemacht. | |
Das mag auch erklären, warum die Turnhalle bis auf den letzten Platz | |
besetzt ist, auch wenn nicht alle Rodenberg lauschen, der mit | |
Feldherrenmiene auf einem Mattenwagen steht und den Prötnitzern die | |
Errichtung eines Überflutungsparks auf ihrem Grund und Boden schmackhaft | |
machen will. Der ohnehin schadhafte Deich soll zu einem Wehr umgebaut | |
werden, damit das Dorf pünktlich zur nächsten Urlaubssaison kontrolliert | |
geflutet werden kann. | |
„Was nutzt mir das schönste Hochwasser, wenn keiner gucken kommt. Was wir | |
brauchen, ist Planungssicherheit. Da ist auch die Politik gefragt. | |
Hochwasserschutz war gestern, was wir heute brauchen, ist intelligentes | |
Katastrophenmanagement“, erklärt Rodenberg und verspricht abermals, die | |
Prötnitzer Hochwasserfestspiele zum Wachstumsmotor der ganzen Region zu | |
machen, stellt gar zahlreiche Arbeitsplätze in Aussicht, wenn auch vorerst | |
nur im Niedriglohnsektor. | |
„Vor Weihnachten und im Hochsommer öffnen wir die Schleusen, und dann | |
machen Sie ihr übliches Ding“, appelliert Rodenberg an die Einwohner. | |
„Sandsäcke schleppen, vor Kameras herumjaulen und auf matschigen Hausrat | |
zeigen.“ | |
Von einer gläsernen Panoramabrücke aus soll den Gästen beste Sicht auf das | |
Spektakel geboten werden, außerdem können sie sich in einem schwimmenden | |
Resort bei einem Gläschen Schlammbowle vom Alltagsstress erholen oder die | |
Muskeln bei einem Sandsack-Workout stählen. | |
„A propos“, freut sich Rodenberg und stellt einen debil grinsenden Sandsack | |
in Plüsch als offizielles Maskottchen vor. Er sieht dem Investor | |
erschreckend ähnlich. | |
„Ich bin halt mit allen Wassern gewaschen“, brüstet sich Rodenberg, der von | |
seinen feuchten Metaphern einfach nicht lassen kann. Mit einem | |
Würstchenstand im elterlichen Schlauchboot fing alles an, erinnert sich der | |
Geschäftsmann. Als die Kölner Innenstadt 1993 unter Wasser stand, war es | |
Rodenberg, der den Schaulustigen kurzerhand Eintrittsgeld abzunehmen | |
begann. Als Jahre später der Oderbruch volllief, hatte Rodenberg bereits | |
sein Netz gesponnen und verkaufte die Besichtigungstouren als Komplettpaket | |
mit Übernachtung und Verpflegung. | |
„Der Hochwassertourismus ist eine boomende Branche“, erklärt Rodenberg. | |
"Allerdings haben die Leute heute nicht mehr das Geld, nach Thailand zu | |
jetten, wenn sie eine Flutkatastrophe sehen wollen. Da muss man eben | |
billige regionale Lösungen anbieten." | |
Rodenberg spricht von nachhaltigem Katastrophentourismus mit ökologischem | |
Gewissen. Die Prötnitzer reagieren dennoch skeptisch. | |
„Man darf nicht allzu wählerisch sein, wenn einem das Wasser bis zum Hals | |
steht“, warnt der Investor, doch Dietmar Rodenberg ist nicht der Erste, der | |
den Prötnitzern ein innovatives Großprojekt für ihre strukturschwache | |
Gemeinde unterjubeln will. Ein überdimensioniertes Spaßbad, das | |
Logistikzentrum eines Versandhändlers und einen Truppenübungsplatz für | |
Freizeitsoldaten mit Panzerverleih und Automaten für Kanonenfutter hat der | |
Ort bereits überlebt. | |
„Lassen Sie uns die Sache wasserdicht machen, bevor Ihnen die Felle | |
davonschwimmen“, legt der Investor nach. Die Schürfrechte in den örtlichen | |
Sandgruben hat er sich bereits gesichert. | |
14 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Christian Bartel | |
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