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# taz.de -- Filmstart „Laurence Anyways“: Schmetterlinge aus dem Mund
> Hingebungsvoll erzählt der junge kanadische Regisseur Xavier Dolan in
> seinem dritten Film „Laurence Anyways“ von einem Gendermix.
Bild: Der Blick über die Schulter: Laurence (Melvil Poupaud)
Wann kann man von einem Film schon behaupten, dass er alles in einem ist:
absurde Komödie, exzessive Tragödie, hemmungsloser Autorenfilm,
leidenschaftliches Beziehungsdrama und anrührende
Mutter-und-Sohn-Geschichte. Wie nebenbei vereint der kanadische Regisseur
Xavier Dolan, der mit zarten 24 Jahren schon drei Filme gedreht,
geschrieben und produziert hat, waghalsige Stilmischungen, abrupte Ton- und
Tempowechsel.
Dolan, der bereits an seinem vierten Film arbeitet und für zwei zudem
selbst vor der Kamera stand, nimmt die Zuschauer mit auf eine
Achterbahnfahrt der Gefühle, ohne die beteiligten Genres in den Exzess und
die Zuschauer in die Enge zu treiben.
Was, wie und wann empfunden und gedacht wird, bleibt also ganz allein
unsere Angelegenheit. Auch ist dem Regisseur, dessen Filme alle in
renommierten Nebenreihen des Festivals von Cannes liefen, trotz aller
Experimentierlust nicht an filmischen Fingerübungen gelegen.
Vielmehr benutzt er seinen durchgeknallten Genremix, um seinem Helden
Rückendeckung zu geben. Denn dieser hat einen schicksalsentscheidenen
Eingriff am eigenen Körper vor. In „Laurence Anyways“ folgt Dolan dem
beliebten Literaturlehrer und Schriftsteller Laurence Alia (Melvil Poupaud)
bei seinen zaghaften Versuchen, fortan in Stöckelschuhen durchs Leben zu
schreiten.
## Doch nicht wohl in seiner Haut
Nicht nur seine Freundin Fred (Suzanne Clément), auch die Zuschauer
reagieren verblüfft, als Laurence seinen Wunsch einer Geschlechtsumwandlung
kundtut – oder besser herausschreit. Eigentlich glaubte man hier einen
Menschen zu sehen, der sich in seiner Haut wohlfühlt und die Blicke der
jüngeren Schülerinnen genießt. Die Sehnsucht nach dem Geschlechtswechsel
ist hier aber keineswegs erzählerische Pointe.
Vielmehr erlebt man aus nächster Nähe einen Menschen, der sich überzeugend
selbst etwas vorgemacht hat. Vielleicht hätte man die kleinen Zeichen
ernster nehmen sollen, wie etwa die Büroklammern, die während eines
Vortrags wie lange Nägel an seinen Fingern stecken und von der Kamera in
einer flüchtigen Bewegung eingefangen werden. Wenn Laurence zum ersten Mal
im Kostüm zum Unterricht schreitet, ist das ein großer Auftritt, den die
Kamera entsprechend zelebriert. Würdevoll und zugleich unsicher ist sein
Gang.
Die Haare sind noch kurz, sein Gesicht ist schön geschminkt. Laurence trägt
nur einen Ohrring (die Handlung spielt in den neunziger Jahren, und vom
lila des Lidschatten bis zu neonblauen Kleidern setzt Dolan die grelle
Farbenfreudigkeit dieser Zeit hingebungsvoll in Szene). Zunächst herrscht
Stille im Raum, dann stellt eine Schülerin eine fachbezogene Frage. Man
geht zur Tagesordnung über.
## Der Sohn, der Tochter werden will
Dolan filmt diese Szene in einer so ruhigen Einstellung, dass man dem
Frieden nicht trauen will. Wenig später erfährt man in einem Nebensatz,
dass er vom Schuldienst suspendiert ist. Die Reaktion der Mutter, die erste
Begegnung mit ihrem Sohn, der nun ihre Tochter werden will, wird in wilden
Reißschwenks eingefangen. Dennoch verharrt die Kamera immer lange genug auf
den Gesichtern, um die innere Aufruhr, die Angst, den Schock mitzunehmen.
Zeitsprünge, surreale Einlagen, in denen Schmetterlinge aus dem Mund
geflogen kommen, um vom Ende einer Verliebtheit zu erzählen – Dolans
variantenreiche, angenehm maßlose Erzählung passt sich letztlich dem
Gefühlschaos von Laurence an. Schon in seinen vorherigen Filmen begleitete
Dolan Menschen, die nicht die vorgegebenen Wege der Liebe beschreiten,
sondern ihre eigenen suchen. Die dafür bereit sind, sich dafür auf
verschlungenen Pfaden, in Sackgassen oder Einbahnstraßen wiederzufinden.
## Der Name Truffaut
In seinem hemmungslos ehrlichem Regiedebüt „Ich habe meine Mutter getötet“
erzählt Dolan von seinen ersten schwulen Erfahrungen und vom Kampf, sein
Begehren gegenüber der Mutter zu behaupten. In dem stilisierten
Liebesreigen „Herzensbrecher“ wiederum geht es um eine Ménage-à-trois, die
eher im Kopf als im Bett stattfindet.
Wahrscheinlich fällt im Zusammenhang mit Dolan so häufig der Name François
Truffaut, weil der junge Kanadier wie einst der französische
Nouvelle-Vague-Regisseur die Leinwand zum freizügigen Experimentierfeld der
Gefühle macht.
Und wenn sie nicht gestorben sind … dann versuchen Laurence und Fred noch
heute, ihre paradoxe Liebe zu leben. Sie liebt den Mann in ihm, er liebt
sie als Frau – und wir halten es mit dem Titel: „Laurence anyways“.
„Laurence Anyways“. Kanada/Frankreich 2012. Regie: Xavier Dolan. Mit Melvil
Popaud, Suzanne Clément u. a., 159 Minuten
27 Jun 2013
## AUTOREN
Anke Leweke
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