# taz.de -- Mick Jagger wird 70: Das Zentralorgan des Rock | |
> Mick Jagger verkörpert das Versprechen darauf, dass die Party nie zu Ende | |
> geht. Am Freitag wird er 70 Jahre alt. Gefeiert hat er schon. | |
Bild: Große Klappe: Mick Jagger hat Geburtstag. | |
Mick Jagger hat einen winzigen Pimmel. Diese interessante Information, | |
gezielt gestreute Nachrede aus der Autobiografie seines Kollegen Keith | |
Richards, machte 2010 die Runde und selbst Leute schmunzeln, denen Mick | |
Jagger herzlich egal ist. | |
Allein der Umstand, das solches Schulhofgewäsch zur weltweiten Nachricht | |
unter „Vermischtes“ taugte, erzählt schon eine Menge über die sexuelle | |
Befreiung der Sechzigerjahre, die Rolling Stones, den Bluesrock, das | |
Publikum, das Lemmon-Matthau-Verhältnis der „Glimmer Twins“ und – na ja, | |
über das Genital des Mick Jagger. Er scheint in der Karriere und bei der | |
Rezeption dieses Künstlers jedenfalls eine größere Rolle gespielt zu haben, | |
als dem Sohn eines Sportlehrers und einer Kosmetikerin wohl von Natur aus | |
zugekommen wäre. | |
Dabei ist das eigentlich Erstaunliche an Mick Jagger, dass es ihn überhaupt | |
noch gibt. Damit sei nicht auf die Drogen angespielt, diese oft tödliche | |
Berufskrankheit aller dionysischen Gestalten. Sondern die Tatsache, dass | |
Mick Jagger auch nach 50 Jahren in der Öffentlichkeit noch immer Mick | |
Jagger ist, Pimmel hin oder her. | |
Wir schreiben das Jahr 2013, und er bastelt nicht an einem stillen, | |
introspektiven Spätwerk mit akustischen Gitarren; er arrangiert seine Hits | |
nicht zu einem Musical für den Broadway oder produziert hoffnungsvolle | |
Newcomer; er schreibt keine protzigen Oratorien oder „erfindet sich neu“, | |
als Fotograf, Maler oder Immobilienmakler. | |
## Herrscher der Hauptbühne | |
Nein, wir schreiben das Jahr 2013, und Mick Jagger beherrscht die | |
Hauptbühne von Glastonbury, eines der größten Festivals der Welt, mit | |
seiner schieren Präsenz, wie er noch jede Bühne beherrscht hat. Wobei er | |
vom Alter her nicht einmal mehr der Vater der meisten Konzertbesucher sein | |
könnte. Sondern der Großvater. | |
Er ist der Prototyp. Das Rollenmodell für unzählige andere Rockstars, die | |
ihrerseits wieder Rollenmodelle für andere Rockstars werden sollten. Dabei | |
halten selbst Verächter der Rolling Stones dem Frontmann am liebsten etwas | |
zugute, das man heute gerne „Fitness“ nennt, was aber am Kern vorbeigreift. | |
Wohl wahr, dass es für einen Mann von fast 70 Jahren eine athletische | |
Hochleistung darstellt, mehrere Stunden über die Bühne zu irrlichtern und | |
dabei zu singen. | |
Zwar ist ein Konzert an sich eine kulturelle, keine sportliche | |
Veranstaltung. Und doch ist das reine Durchhaltevermögen ein | |
Alleinstellungsmerkmal der Band geworden. Und was an Jagger heute so sehr | |
besticht wie vor 50 Jahren, ist tatsächlich seine scheinbar nie versiegende | |
Virilität. | |
Stampfen, stolzieren, sprinten, das Mikro ins Publikum halten – sein | |
Repertoire an Gesten mag ein klassisch rockistisches sein. Seine | |
eigentliche Präsenz ist aber die eines drahtigen Balletttänzers. Elvis | |
Presley, heißt es, habe mit seinem Hüftschwung die Frauen nervös gemacht – | |
Mick Jagger sei das, anders als Elvis Presley, auch bei den Männern | |
gelungen. | |
Gut möglich, dass sein sinnlicher Auftritt erstmals in der Popkultur die | |
Grenzen zwischen den Geschlechtern verwischte. Immerhin ist von David | |
Bowie, der diese Grenzen später bewusst überschreiten sollte, überliefert, | |
dass er in den Sechzigerjahren verzweifelt „auf der Suche nach einer | |
Gruppe“ gewesen sei, „deren Mick Jagger ich hätte werden können“. | |
## Muffig und nicht reformierbar | |
Das revolutionäre Potenzial der Stones ist freilich heute ähnlich | |
verschüttet wie die Erotik des Hüftschwungs von Elvis. Mit dem Blues | |
verhält es sich wie mit jeder anderen orthodoxen Religion auch. Wer ihr | |
nicht angehört, dem erscheint sie muffig und nicht reformierbar. Wer ihr | |
aber angehört, den hat sie erleuchtet, der sieht keinen Sinn in Reformen. | |
Tatsächlich war der Blues, als ihn sich die weiße britische Jugend zu | |
Beginn der Sechziger anverwandelte, ein erledigter Fall. Kein Hahn krähte | |
mehr nach Bo Diddley, Chuck Berry oder Muddy Waters. Aber alle Welt wollte | |
dabei sein, als Mick Jagger und Keith Richards den siechen Rhythm ’n’ Blues | |
wiederbelebten, mit harter Hand und der E-Gitarre als Defibrillator. Das | |
war wohl wagemutig und wesentlich exotischer als die hundertjährige | |
Unterhaltungstradition der „Music Halls“, in die sich die Beatles zunächst | |
bereitwillig hineinstellten. | |
Mit dem paradoxen Ergebnis, dass die proletarischen Beatles bald die | |
Lieblinge aller Akademiker wurden, die Stones dagegen für eine wilde und | |
verwegene Unterschicht standen – obwohl Jagger wie Richards der | |
Mittelklasse entstammten und brav BWL studiert hatten. Sie waren es aber, | |
die eben keine identischen Anzüge auf der Bühne trugen, sondern | |
Alltagsklamotten – vom Skandal langer Haare einmal abgesehen. | |
Hinzu kam, dass man sich an das Organ des Mick Jagger heute zwar gewöhnt | |
hat, seine Stimme aber damals ebenfalls sensationell neu war. Gefragt waren | |
Interpreten, Akrobaten oder Crooner – und niemand, der sich mit | |
individualistischer Inbrunst in seine Texte warf. Sein eigentliches Vorbild | |
war Van Morrison, der Jagger noch lange und vollkommen zutreffend | |
nachsagte, er habe seinen eigenwilligen Gesangsstil bis auf die letzte | |
kapriziöse Phrasierung bei ihm abgehört. | |
## Antennen für andere Genres | |
In der Gruppe galt Jagger eindeutig als Realo und damit derjenige, der auch | |
Antennen für andere Genres hatte als den Blues. Wenn der Band in den | |
folgenden Jahrzehnten psychedelisch zumute wurde, sie lässigen Reggae | |
einstreute oder gar mit Disco flirtete, so war das meistens Jaggers | |
Einfluss zuzuschreiben. Erst 2011 gründete er mit David Stewart | |
(Eurythmics), der Soulsängerin Joss Stone, Damian Marley und dem | |
Filmmusiker A. R. Rahman die Gruppe SuperHeavy, nur um mit diesem | |
weltmusikalischen Amalgam grandiosen Schiffbruch zu erleiden. | |
Immerhin, er hatte es gewagt. Denn Wagemut war, trotz mancher | |
Ausfallschritte, nie eine Tugend der Stones – dafür sorgte schon Keith | |
Richards, der als Fundamentalist den Blues bis auf den heutigen Tag bewahrt | |
hat. | |
„Aus jedem Song grunzt eine saturierte, grienende Lebensfreude von Leuten, | |
denen es an nichts fehlt und die sich […] weit vom Gefühl des Mangels oder | |
des Selbstzweifels entfernt haben.“ Was Diedrich Diederichsen 1980 in | |
Sounds über das Album „Emotional Rescue“ schrieb, trifft auf weite Teile | |
des Oeuvres zu. | |
Schon früh waren die Stones natürlich überholt, und zwar rechts und links. | |
Die Beatles waren innovativer, Led Zeppelin härter und Pink Floyd | |
erhabener. Die Stones dagegen blieben immer die Stones. Sie blieben stehen, | |
während die Welt sich weiterdrehte. Und warteten ab, bis die Welt wieder | |
bei ihnen ankam, was alle paar Jahre der Fall war. | |
## Liebevoll oder doch wenigstens generös | |
Von Moden nur selten angekränkelt, blieb die Gruppe ihrem Fundament – dem | |
Blues – weitgehend treu. Treuer jedenfalls als Mick Jagger den Frauen. He | |
doesn’t get no satisfaction. Seine Virilität zählt wahrscheinlich zu den | |
wenigen Aspekten seiner Persönlichkeit, die nicht gespielt sind. Mühelos | |
wechselt er von einem Südstaaten-Akzent in herbstes Cockney-Englisch und | |
von dort zu Cambridge-Englisch, je nach Bedarf. Er hat, wenn wir richtig | |
gezählt haben, sieben Kinder von mindestens vier Frauen – darunter ein | |
nicaraguanisches Model und eine brasilianische TV-Moderatorin. Um alle | |
Beteiligten soll er sich, wie man hört, liebevoll oder doch wenigstens | |
generös kümmern. | |
Wer genau eine Person ist, lässt sich immer schwer sagen, schon das Wort | |
„Person“ bedeutet Maske. Bei einem Rockstar, der sich seit 50 Jahren jede | |
beliebige Persönlichkeit aussuchen kann – Peter Pan, Lord Byron, Dandy, | |
Manager, Tier – ist eine Antwort schier unmöglich. Und das gilt wohl auch | |
für Jagger selbst. Vielleicht ist ja auch ernüchternd banal, was hinter den | |
Spiegeln wohnt. | |
Vor 30 Jahren kassierte Jagger einen Vorschuss von 2,5 Millionen Pfund für | |
seine Autobiografie, nur um das Geld später wieder zurückzuzahlen. Sein | |
Manuskript war dem Verlag zu belanglos und platt erschienen, als dass es | |
hätte veröffentlicht werden können. Keine Informationen über die Länge der | |
Geschlechtsteile seiner Kollegen. „Ich bin wieder gefragt worden“, erklärte | |
Jagger diesen Monat, „aber ich werde es nicht noch einmal versuchen. Ich | |
fand es deprimierend und langweilig.“ | |
Tatsächlich ist die Gruppe eine Expedition in unerforschte Gebiete der | |
Zeit. Rock ’n’ Roll war das hedonistische Fest einer entgrenzten | |
Jugendlichkeit. Das Leben als Große Party, die gefeiert werden will, als | |
gäbe es kein Morgen. Nur das Jetzt. | |
## Party ohne Ende | |
Was gestern war, ist in dieser Welt so deprimierend und langweilig wie das, | |
was morgen sein wird. So scheint Mick Jagger das Glück zu haben, einem | |
Unternehmen zu präsidieren, das sich zur rechten Zeit als Marke platzierte | |
– und seitdem einfach nie wieder verschwand, wie in Bernstein eingefangen | |
für alle Ewigkeit. Für seine Fans, vor allem die treu und tapfer | |
mitalternden Babyboomer, verkörpert er das immergrüne Versprechen darauf, | |
dass diese Party nie zu Ende geht. | |
Längst ist nicht mehr das Album, sondern das Konzert das Medium, mit dem | |
dieses Versprechen immer mal wieder eingelöst wird. Ein Hochamt physischer | |
Präsenz und musikalischer Energie. Andere mögen sich aus Eitelkeit | |
irgendwann Schönheitsoperationen unterziehen, Mick Jagger lässt es aus | |
Eitelkeit bleiben. Er ist ein Dorian Grey, an dessen Stelle nicht ein | |
Spiegel altert. Sondern sein Publikum. | |
Am Freitag wird er also 70 Jahre alt. Seinen Geburtstag hat er schon vor | |
ein paar Wochen gefeiert, in einem Club in London. Es heißt, er habe sich | |
erst um 1.35 Uhr ins Hotel chauffieren lassen, als letzter der Rolling | |
Stones. Die Große Party, die niemals endet, wird Mick Jagger wahrscheinlich | |
auch als Letzter verlassen. Sein Vater starb erst mit 93. | |
26 Jul 2013 | |
## AUTOREN | |
Arno Frank | |
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