# taz.de -- Beobachtungen an der Urne: Wir hatten die Wahl | |
> Von Zehlendorf bis Tegel: In den Wahllokalen werden am Sonntag einige | |
> Überraschungen geboten – von Kochtöpfen in der Kabine bis zu bereits | |
> ausgefüllten Stimmzetteln. | |
Bild: In Kreuzberg gibt eine Wählerin am Sonntag ihre Stimme zur Bundestagswah… | |
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Es sollte doch nur eine Auffrischung des gelb-blauen Baumhauses sein. Am | |
Wahlwochenende aber hat auch das einen politischer Anstrich. „Soll wohl das | |
letzte Aufbäumen für die FDP sein, hä?“, ruft der Nachbar über den Zaun. | |
Schwedenfarben, Bullerbü? Alles übertüncht von der politischen Farbenlehre. | |
Dass das Gelb doch nicht ganz das Schwarz decken kann, welches die Kinder | |
zwischenzeitlich mal draufgepinselt hatten – ist das nun ein Hinweis | |
darauf, dass die FDP-Zweitstimmen-Kampagne nichts bringen wird? | |
Am Sonntagvormittag dann, im Zehlendorfer Wahllokal, wird die politische | |
Früherziehung des Nachwuchses jäh gestoppt: „Bedaure, die Kinder dürfen | |
nicht mit in die Wahlkabine“, sagt die Helferin. Mist, das hatten wir glatt | |
vergessen: frei, direkt und allgemein sind die Wahlen – aber eben auch | |
geheim. Was ja auch ganz gut ist: Am Ende hätten man der Kurzen noch im | |
letzten Moment den Mund zuhalten müssen: „Papa, warum kreuzt du denn bei | |
der …“ Zum Ausgleich dürfen die Kinder abends länger aufbleiben – zur | |
Wahlsondersendung auf KiKa. | |
## Next Station Altersheim? | |
Will der Landeswahlleiter, dass die Pankower ihren Bezirk besser | |
kennenlernen? Zur Stimmabgabe geht es in den Jugendklub M24 in der | |
Mühlenstraße. Letztes Mal war ich in einer Schule. Muss ich in vier Jahren | |
ins Altersheim? Vielleicht ist der Landeswahlleiter aber auch nur | |
Fußballfan. Am Fußballkäfig hinter dem Jugendzentrum flattert die Fahne von | |
Hertha – die spielt nachher noch in Freiburg. | |
## Die Hand auf dem Schlitz | |
Maue Beteiligung in der Silberstein-Grundschule am Neuköllner S-Bahn-Ring. | |
Politiklehrer Hans-Jürgen Dommermuth lässt seine rechte Hand auf einem | |
Matheheft ruhen, mit dem er den Schlitz der Wahlurne abgedeckt hat. | |
Plötzlich kommt ein Stoß von Leuten auf einmal in den Raum, alte und junge. | |
Vor der Kabine bildet sich eine Warteschlange. „Gib die Stimmzettel mal | |
nicht so schnell raus“, ruft er eine anderen Wahlhelferin gegenüber zu, | |
„sonst staut sich das hier.“ Nach ein paar Minuten hat sich die Menge | |
zerstreut, Dommermuths Hand mit dem Heft ruht wieder lange auf dem Schlitz. | |
„Schade, dass so viele Menschen nicht wählen gehen“, murmelt der Lehrer | |
leise. | |
## Senioren-Gottesdienst | |
Wahlbezirk 407, Tegel. Gegen neun Uhr schlurfe ich um die Ecke ins | |
evangelische Gemeindezentrum, mein Wahllokal. Die Straßen schimmern in Grau | |
und Beige, von überallher strömen die Senioren zur Stimmabgabe, als wär’s | |
ein Gottesdienst. Wobei zum Gottesdienst ja keiner geht. | |
„Der Herr bitte zu mir!“ Ah, verstehe, wegen des großen Andrangs werden | |
gleich an zwei Tischen Stimmzettel ausgegeben. Aber nein: Es gibt einen | |
Frauen- und einen Männertisch. Und dann hat mein Männerbetreuer auch noch | |
etliche Stapel vor sich liegen. Meinen Zettel zieht er von dem mit dem | |
Schildchen „Jahrgang 1969–1978“. | |
Damit ist klar: Ich werde statistisch durchleuchtet. Warum auch nicht? In | |
anderen Ländern ist das längst so, da wählen Weib- und Männlein sogar in | |
getrennten Lokalen. So dick muss es ja nicht kommen, aber ob junge Frauen | |
und alte Männer Peer Steinbrück bevorzugen oder eher umgekehrt, das finde | |
ich schon interessant. | |
Später erfahre ich: Meins war eines von 104 Wahllokalen in Berlin, wo | |
Geschlecht und Alter erhoben wurden. Bei insgesamt über 1.700! Ich bin also | |
etwas ziemlich Besonderes. Zumal um diese Uhrzeit. Die Helferin kurz vor | |
der Wahlurne setzt einen Strich auf ihre Strichliste, es ist der erste im | |
Feld „1969–1978“. Anwohner aus meiner Alterskohorte sind hier oben dünn | |
gesät – und offenbar schlafen sie noch. | |
## Kontrolle ist besser | |
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser: Neben der Urne in der Neuköllner | |
Rütli-Schule sitzen zwei Männer, einer hebt den Zettel, der den Schlitz | |
verdeckt, der andere führt eine Liste. Auf die Frage, was er zähle, sein | |
Kollege am anderen Tisch zähle doch auch, antwortet er: „Er kontrolliert | |
mich.“ Beide lachen. | |
Etwas weiter südwestlich in der Legien-Schule kommt gegen 14 Uhr ein junger | |
Blonder mit Kochtopf ins Wahllokal. Ein älterer Wahlhelfer nimmt ihn | |
grinsend in Empfang. „Wir geben uns doch größte Mühe, dass hier alles flink | |
geht, junger Mann! Mittagessen hätten Sie nicht mitbringen brauchen.“ | |
## CDU ist schon angekreuzt | |
Im Wahllokal 107 im Rathaus Kreuzberg hätte sich eine Frau auch das Wählen | |
sparen können. Mit den Worten „Hier ist schon was angekreuzt!“ kommt sie | |
aus der Wahlkabine und hält ihren Stimmzettel hoch. Darauf sind zwei Kreuze | |
für die CDU – aber nicht von ihr, behauptet sie. „Der ist hier | |
liegengeblieben“, sagt ein Wahlhelfer. Eine andere Frau habe ihren | |
ausgefüllten Stimmzettel liegen lassen, statt ihn in die Urne einzuwerfen. | |
Die Wahlhelfer entdeckten das erst später – und warfen den Stimmzettel | |
nicht in die Urne, sondern bewahrten ihn auf. Falls die Frau wiederkäme. | |
Sie beteuern, es sei ein Versehen gewesen, den Schein an eine andere | |
Wählerin auszugeben. Die bekommt einen frischen Zettel. | |
## Das Touristen-Orakel | |
Zum Wahlausgang in Berlin gibt es bis Redaktionsschluss nur Mutmaßungen im | |
Stile der Blau-Gelb-Exegese beim Zehlendorfer Baumhaus: Vor Angela Merkels | |
Wohnung am Pergamonmuseum etwa lauert kurz vor zwölf nur ein gelangweiltes | |
Fernsehteam. Auf dem Gendarmenmarkt stehen hingegen vier Touristengruppen. | |
Auf dem nach August Bebel benannten Platz aber sogar sechs. Das | |
Touristengruppen-Orakel ist somit eindeutig: absolute Mehrheit für die SPD. | |
VON STEFAN ALBERTI, GEREON ASMUTH, SEBASTIAN HEISER, GABRIELA KELLER, | |
KONRAD LITSCHKO, SUSANNE MEMARNIA, CLAUDIUS PRÖSSER, UWE RADA, MAJA BECKERS | |
22 Sep 2013 | |
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