| # taz.de -- Die Wahrheit: Spross des Sekts | |
| > Aus dem Parlament: Der Bundestag nimmt endgültig Abschied von dem großen | |
| > unbekannten FDP-Abgeordneten Aribert von Erwe. | |
| Bild: Das perlt. | |
| Stille liegt über den verwaisten Büros, in denen bis zum Wochenende die | |
| Bundestagsfraktion der FDP residierte. Lediglich einige subalterne | |
| Mitarbeiter tippen verzweifelt letzte Bewerbungen im fahlen Schein der | |
| Monitore oder begehen in stiller Würde Seppuku, um ihren Herren ins Reich | |
| der Schatten zu folgen. | |
| Doch aus einer kleinen Kammer ganz am Ende des Korridores dringt eine | |
| wütend krächzende Stimme. Aribert von Erwe hat sich dort verschanzt, ein | |
| altgedienter Freidemokrat im abgewetzten Maßanzug mit Siegelring am | |
| altersfleckigen Finger. | |
| Er ist der allerletzte seines Stammes. | |
| „Nur aus meinen kalten, toten Händen“, deklamiert van Erwe und schwenkt | |
| nicht etwa sein FDP-Parteibuch – denn das hat der greise Parlamentarier | |
| irgendwann in den Siebzigern beim Schocken verwettet –, sondern einen | |
| vergilbten Zettel, der ihn als MdB ausweist. Freilich als Mitglied des | |
| fünften deutschen Bundestages, der nach den Wahlen von 1965 zusammentrat. | |
| Damals gewann der junge von Erwe überraschend das Direktmandat seines | |
| Geburtsortes Bad Bergesdorf, nachdem eine überaus siegesgewisse CDU einen | |
| Sack Kartoffeln aufgestellt hatte, der bei den beiden vorangegangen Wahlen | |
| allerdings immer satte Mehrheiten eingeheimst hatte. | |
| ## Spendierhosen auf der Pferderennbahn | |
| Zeitzeugen beschreiben den letzten Spross einer spät geadelten | |
| Sektfabrikantendynastie als leutseligen, jungen Mann, der gern die | |
| Spendierhosen seines Vaters spazieren trug, stets auf der Pferderennbahn | |
| anzutreffen gewesen sei und sich aus Politik im Allgemeinen wenig gemacht | |
| habe. Seiner Frau habe er immer erzählt, er gehe in seinen Club, wenn er | |
| nach Bonn fahren musste, erinnert sich ein Jugendfreund. | |
| Einer weiteren Wahl stellte sich von Erwe nicht, der umgängliche und | |
| eloquente Mann verteidigte sein Mandat lieber bei den gesellschaftlichen | |
| Anlässen des politischen Lebens und machte sich dort unentbehrlich. Alte | |
| Handbücher des Bundestages weisen ihn als Vorsitzenden des | |
| MdB-Philatelistenverbandes, Skipper der parlamentarischen Freizeitflotte | |
| und ständiges Mitglied einer einflussreichen Bridge-Runde aus, der auch | |
| Hildegard Hamm-Brücher und Otto Graf Lambsdorff angehört hatten, dem er den | |
| doppelten Grantchesterknoten beigebracht haben soll. | |
| Als Redner ist von Erwe in seiner gesamten politischen Laufbahn nur einmal | |
| in Erscheinung getreten: In einer Stegreifrede, die er zu vorgerückter | |
| Stunde 1972 im eher privaten Kreis hielt, forderte von Erwe Frackzwang bei | |
| allen Sitzungen des Hauses sowie eine saftige Diätenerhöhung, die er jedoch | |
| hartnäckig als „standesgemäße Apanage“ bezeichnete. | |
| „Er war ein mitreißender Redner“, erzählt ein ehemaliger Abgeordnete des | |
| bürgerlichen Lagers. „Bloß von Politik verstand er nichts. Ich glaube, er | |
| wusste nicht einmal, dass man gewählt werden muss. Mir hat er mal erzählt, | |
| er sei auf Empfehlung eines Freundes als MdB aufgenommen worden.“ | |
| ## Das ererbte Anwesen verjuxt | |
| „Der Ari war halt schon immer dabei“, erinnert sich auch Altparlamentarier | |
| Heinz Riesenhuber (CDU), immerhin seit 1976 im Bundestag. „Zu welcher | |
| Fraktion der gehört hat und ob der Ari wirklich mal gewählt worden ist, hat | |
| eigentlich nie jemanden gekümmert. A propos: Bin ich eigentlich noch | |
| dabei?“ | |
| Das Parlament war für von Erwe zu diesem Zeitpunkt längst Lebensmittelpunkt | |
| und Wohnort geworden, schließlich war die Bergesdorfer Sektkellerei vor | |
| Jahren bankrott gegangen, das ererbte Anwesen verjuxt und die Gattin mit | |
| dem Reitlehrer durchgebrannt. Da blieb nur noch die Politik. | |
| Mit dem Umzug des Parlamentes von Bonn nach Berlin verliert sich die Spur | |
| des Hinterbänklers, dennoch widerstand der Überlebenskünstler | |
| offensichtlich auch dem raueren Wind der neuen Hauptstadt. Nach eigenen | |
| Angaben überstand er den Umzug versteckt in einem Aktenschrank, bis er sich | |
| in den chaotischen Anfangstagen unerkannt unter die Meute mischte, um sich | |
| schließlich in einer Besenkammer einzuquartieren, in der von Erwe bis | |
| zuletzt Bürgersprechstunden abhielt und unerfahrenen Lobbyisten kleinere | |
| Beträge abschwatzte. | |
| Erst gestern, beim großen Kehraus der FDP-Fraktion, wurde Aribert von Erwe | |
| nach achtundvierzig Jahren parlamentarischer Arbeit vom Reinigungspersonal | |
| in seinem Versteck aufgestöbert. Kenner der politischen Szene vermuten, | |
| dass von Erwe jetzt ins Bonner Haus der Geschichte einziehen wird – | |
| angeblich hat er sich bereits einen Platz neben Joschka Fischers | |
| Turnschuhen reservieren lassen. | |
| 27 Sep 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Bartel | |
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