# taz.de -- Gentrifizierung in Warschau: Die Sanierung der „Ostwand“ | |
> Lange Zeit galt der Stadtteil Praga als Armenviertel von Warschau. Heute | |
> ist es Eldorado von Spekulanten und Zankapfel der Stadtpolitik. | |
Bild: Eine Fassade in Warschau Praga. | |
WARSCHAU taz | Blutrot leuchtet ein großes „W“ auf der grauen Ziegelwand, | |
so wie schon einmal in Warschau. Im Jahr 1944 riefen die „Ws“ die | |
Bevölkerung zum bewaffneten Aufstand gegen die deutschen Besatzer auf. „W“ | |
wie „Wybuch“ – „Ausbruch“ oder „Warszawa walczaca“ – „kämpfe… | |
Jetzt ruft Jaroslaw Kaczynski, Chef der nationalkonservativen | |
Oppositionspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), mit eben diesem „W“ zu | |
einem Volksentscheid gegen Warschaus Stadtpräsidentin auf. Am „Tage W“, dem | |
13. Oktober 2013, sollen die Warschauer Hanna Gronkiewicz-Waltz abwählen. | |
Nie hat sich Warschaus Oberbürgermeisterin – oder wie man in Polen sagt: | |
Stadtpräsidentin – so volksnah gezeigt wie in den letzten Wochen. Das hat | |
eine Vorgeschichte: Hanna Gronkiewicz-Waltz, früher Chefin der Nationalbank | |
Polens, gilt als publikumsscheu und arrogant. | |
Als sie kürzlich Gästen den Park des königlichen Schlosses Wilanow zeigen | |
wollte, sich aber weigerte, dafür den Eintrittspreis in Höhe von 5 Zloty | |
(1,20 Euro) zu zahlen, brach unter den Warschauern ein Sturm der Entrüstung | |
los. Piotr Guzial, Bezirksbürgermeister von Warschau-Ursynow, sah seine | |
Chance gekommen und initiierte den Volksentscheid zur Abberufung seiner | |
Chefin. | |
Er folgt damit einer Referendumswelle, die derzeit ganz Polen erfasst hat | |
und immer dasselbe Ziel hat: die Abberufung eines Bürgermeisters, | |
Stadtpräsidenten oder Wojewoden. Die Politikverdrossenheit in Polen ist | |
groß. Seither fährt Gronkiewicz-Waltz öffentlichkeitswirksam mit der | |
Straßenbahn, geht zu Bürgeranhörungen und zahlt selbstverständlich überall | |
Eintritt. | |
## „Das war Krieg damals“ | |
In Praga, dem über Jahrzehnte vernachlässigten Stadtteil auf der rechten | |
Weichselseite, sind die Menschen über die Politik der Stadtpräsidentin | |
empört. „Dieses Weibsstück!“ schimpft Bogdan Borkowski, Brezelverkäufer … | |
dem Wilnaer Bahnhof. „Zwei Jahre baut sie nun schon diese verdammte Metro. | |
Alles ist aufgerissen, dreckig und stinkt!“ Der arbeitslose Frührentner | |
spuckt aus. Am Referendum teilnehmen will er trotzdem auf gar keinen Fall: | |
„Dann kriegen wir am Ende diesen Kaczynski, der ist ja noch schlimmer!“ | |
Borkowskis Stimme überschlägt sich fast. „Meine Familie hat im Warschauer | |
Aufstand 1944 gekämpft. Und jetzt meint dieser Idiot, wenn wir die | |
Stadtpräsidentin mit einem Kreuzchen abwählen, dann ist das so wie der | |
Warschauer Aufstand?“ Ein paar Meter hinter dem Bauzaun rattert eine | |
Maschine über den Asphalt, der Kran quietscht und auf der Straße hupen | |
Autofahrer aggressiv. „Das war Krieg damals“, schreit Bogdan Borkowski | |
gegen den Lärm an. „Jetzt haben wir Chaos!“ | |
Wie eine Raupe frisst sich die Metrobaustelle durch Praga. In den Straßen | |
entlang der künftigen U-Bahn-Linie sieht man immer wieder verkohlte | |
Backsteinhäuser und leerstehende Ruinen. Bella Szwarcman, deren Familie den | |
Holocaust in der Sowjetunion überlebte und die sich nach dem Krieg bewusst | |
im ehemals jüdischen Viertel Praga niederließ, schenkt Kaffee ein. | |
In ihrer Wohnung in der Jagiellonskastraße duftet es nach Kardamom und | |
Zimt. „Das alte Praga stirbt“, sagt sie. „Auch wir müssen ausziehen und | |
etwas Neues suchen.“ Die Stadt habe einem Pariser Investor drei Häuser in | |
Praga verkauft, darunter auch ihres an der Jagiellonskastraße. Nach der | |
Luxussanierung werde sich keiner der alten Mieter mehr eine Wohnung im Haus | |
leisten können. | |
Bellas Mann Kazik Czarnota geht ans Fenster und deutet hinaus. „Sie | |
räuchern uns aus“, stellt er sarkastisch fest. „Wie überall in Praga.“ … | |
schiebt die Gardine beiseite. „Da drüben, wo alles so verkohlt aussieht, | |
gab es einen Schwelbrand im Keller. Der Täter wurde nie gefasst.“ Alle | |
Mieter seien inzwischen ausgezogen. | |
Szwarcman und Czarnota sind ebenfalls auf die Warschauer Stadtpräsidentin | |
schlecht zu sprechen, werden das Referendum dennoch boykottieren. „Was hat | |
sie uns nicht alles versprochen?“, fragt die Übersetzerin aus dem | |
Jiddischen rhetorisch. „Neue Investitionen! Revitalisierung der alten | |
Stadtteile! Nationalstadion an der Weichsel und – speziell für uns in Praga | |
– ein großes Sport- und Erholungszentrum!“, spielt sie für einen Moment d… | |
engagierte Wahlkämpferin. Sie steht auf und geht ans Balkonfenster, um | |
etwas zu zeigen. „Was haben wir bekommen?“, fragt sie und deutet auf das | |
Eingangstor neben dem offenen Müllcontainer. | |
„Pisse, Lärm und Dreck!“ Die Verkehrsbetriebe haben direkt vor dem Haus | |
eine Bushaltestelle für die Fußballfans eingerichtet. Wie zum Hohn | |
scheppert in dem Moment eine noch halbvolle Bierdose in den Hof. „Die Fans | |
sind besoffen, grölen, pinkeln und kotzen überall hin.“ „Doch wozu die | |
Stadtpräsidentin abberufen, wenn es keinen Gegenkandidaten gibt, der etwas | |
anders machen würde“, sagt sie kopfschüttelnd. | |
Ihr Mann Kazik schlägt vor, gemeinsam zum Prager Hafen zu gehen, einer | |
Großinvestition im Stil der Hafencity von Hamburg, und anschließend zur | |
Zabkowskastraße und der alten Wodkafabrik Koneser. Schon von Weitem sind | |
die im Wind knatternden Fahnen zu hören. „Port Praski“ steht darauf. Hier | |
soll auf rund 36 Quadratkilometern eine Hafencity entstehen mit Lofts, | |
Kunstgalerien, teuren Restaurants und Bootsanlegestellen. Kazik deutet auf | |
ein baufälliges Haus, das mit Holzstützen vor dem Einsturz bewahrt wird. | |
Hier ist einst Janusz Korczak, der berühmte Pädagoge, den die Deutschen im | |
Vernichtungslager Treblinka ermordeten, zur Schule gegangen. Das Übliche | |
ist geschehen: Schwelbrand, Auszug der Mieter, und wenn das Haus ganz | |
einstürzt, „kann der Investor hier ein Apartmenthaus bauen“, erklärt Kazik | |
Carnota.“ Dabei seien die Warschauer gar nicht gegen Neubauten. Nur gebe es | |
in Warschau so wenig originale Bausubstanz, dass man diese erhalten müsse, | |
um die Identität der Stadt zu bewahren. | |
## Praga war tiefster Osten | |
Über Jahrzehnte galt Praga als das Armenviertel Warschaus. Die Weichsel | |
bildete die Trennlinie zwischen Polska A und Polska B. Links der Weichsel | |
wohnten die reichen Warschauer, rechts davon bis hin zur Grenze nach | |
Russland, Weißrussland und der Ukraine die armen Polen. Hier begann die | |
sogenannte „Ostwand Polens“ oder auch schlicht – abschätzig – Asien. N… | |
dem Krieg wurde Warschau-Praga, das wie die tschechische Hauptstadt seinen | |
Namen vom slawischen Wort „Brandrodung“ herleitet, über Jahrzehnte | |
vernachlässigt. Links der Weichsel erhob sich aus den Trümmern eine neue | |
Stadt: neben dem stalinistischen Kulturpalast und dem sozialistischen | |
Musterviertel MDM entstand nach alten Vorlagen eine neue pittoreske | |
Altstadt mit Wehrmauer und Königsschloss. | |
Nach der demokratischen Wende im Jahr 1989 schossen dort glitzernde | |
Wolkenkratzer aus Stahl und Glas in die Höhe, während Praga immer mehr | |
verfiel. Heute ist genau dieses Viertel zum Eldorado der Spekulanten | |
geworden. Rings um die neue Metrolinie schießen Miet- und Grundstückspreise | |
in die Höhe. Die Künstler, die Praga als Erste entdeckten, packen nun | |
wieder ein. Denn das Feuer macht auch vor ihren Ateliers und Werken nicht | |
Halt. | |
## Zielscheibe Donald Tusk | |
Die ehemalige Wodkafabrik Koneser mit dem morbiden Charme alter | |
Ziegelhallen bot bislang Künstlern, Antiquaren und am Wochenende sogar | |
Ökobauern Quartier. Auch der Nachtclub Sen Pszczoly („Bienentraum“) | |
schlüpfte hier unter, nachdem in der Inzynierskastraße über ein Dutzend | |
Künstlerateliers, der Club und das Off-Theater Remus ausgebrannt waren. | |
Doch nun sind am Zaun schon die Computergrafiken von dem neuen | |
Koneser-Zentrum zu sehen. Teure Lofts sollen hier entstehen, Kunstgalerien | |
und ein Einkaufszentrum. | |
Ob auch die Künstler hier Platz für ihre Werkstätten haben werden, ist | |
zweifelhaft. Barbara Dzugaj vom Stadtteilamt Praga-Nord versichert zwar: | |
„Wir haben eine Arbeitsgruppe gebildet und tun alles, um den Künstlern zu | |
helfen und sie in Praga zu halten“, doch die Angst vor weiteren Bränden | |
kann auch sie den Malern und Bildhauern nicht nehmen. Im „Ceylon Bazaar“, | |
der Mitte 2012 in eine der Koneser-Hallen eingezogen war und Ledertaschen | |
aus Indien, restaurierte Möbel sowie Souvenirartikel aus der | |
kommunistischen Zeit vor 1989 anbot, steht auch schon diskret, aber | |
unübersehbar das Schild „Likwidacja“. | |
An einem Kiosk entdeckt Bella Szwarcman auf dem Titel von Newsweek Polska | |
das Konterfei des rechtsnationalen Politikers Jaroslaw Kaczynski. Eine | |
Fotomontage. „Warschau! Mir nach!“, ruft der kleine Mann mit Wehrmachtshelm | |
auf dem Kopf. In den Händen hält er Panzerfaust und Karabiner. | |
Die Politiker von der PiS im Sejm, dem polnischen Abgeordnetenhaus, sehen | |
das geplante Referendum gegen die Stadtpräsidentin Warschaus als gute | |
Gelegenheit, den liberalkonservativen Premier Donald Tusk zu schwächen. | |
Zwar kündigte dieser bereits an, dass bei einer Abwahl von | |
Gronkiewicz-Waltz sie die kommissarische Stadtpräsidentin bis zu den | |
regulären Neuwahlen 2014 bleiben werde, doch könnte sich die Abwahl | |
durchaus negativ auf die Parlamentswahlen 2015 auswirken. | |
Kazik Czarnota lacht, als er den Möchtegernaufständischen von 1944 auf dem | |
Titelbild sieht: „Das hat Kaczynski jetzt von seiner Kampagne! Er muss | |
aufpassen, dass das Referendum nicht nach hinten losgeht.“ Denn wenn | |
Gronkiewicz-Waltz nicht abgewählt wird, könnte der „Tag W“ zum Anfang vom | |
Ende der PiS werden. „Das Risiko war ihm wohl nicht ganz klar.“ | |
12 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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Warschau | |
Donald Tusk | |
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