| # taz.de -- Interview mit Pirat Martin Delius: „Es ist viel mehr drin“ | |
| > Der Berliner Piraten-Abgeordnete Martin Delius über die verlorene | |
| > Bundestagswahl, das Ende des Hypes und die Chancen bei der Europawahl. | |
| Bild: „Wir brauchen die Europawahl“: Der Berliner Pirat Martin Delius auf e… | |
| taz: Herr Delius, gerade mal 2,2 Prozent erreichten die Piraten bundesweit | |
| bei der Bundestagswahl: Wie viel Mitleid und Häme müssen Sie von | |
| Parlamentarieren anderer Fraktionen im Abgeordnetenhaus jetzt ertragen? | |
| Martin Delius: Keinerlei. Dafür sind wir Abgeordneten fast alle | |
| professionell genug – mal abgesehen von einigen Unverbesserlichen, die uns | |
| als Splitterpartei bezeichnen. | |
| Es käme wahrscheinlich einigen entgegen, wenn Sie zur Splitterpartei | |
| würden: Gab es schon Abwerbeversuche in ihrer Fraktion? | |
| Ich sage es mal so: Es ist natürlich sehr attraktiv für andere Parteien, | |
| durch gezieltes Abwerben einzelner Mitglieder der Piratenpartei jetzt den | |
| Gnadenstoß zu geben. Und natürlich gibt es Annäherungsversuche – auch bei | |
| mir. | |
| Interessieren sich denn Abgeordnete anderer Fraktionen für ihre Lage? | |
| Natürlich werden wir gefragt: „Wie geht ihr mit der Niederlage um?“ Sehen | |
| Sie: Wir arbeiten kontinuierlich und intensiv mit, etwa am Haushalt. In | |
| allen Fachbereichen stellen wir Anträge, loten Gegenfinanzierungen aus, | |
| sprechen mit Betroffenen. Das hat eine ganz andere Qualität als noch bei | |
| den letzten Haushaltsberatungen vor zwei Jahren – da waren wir ja gerade | |
| erst gewählt. Das merken auch die Kollegen. | |
| Die Wähler haben das aber nicht gemerkt. | |
| Das stimmt. Wir haben ein wahnsinnig schlechtes Marketing. Und wir haben | |
| uns in Zeiten des Hypes nur auf den Selbstläufereffekt verlassen. Alle | |
| Zeitungen haben geschrieben: Die Piraten sind die Rettung der Demokratie, | |
| alles wird neu und schick. Darauf ließ sich natürlich trefflich ausruhen. | |
| Und nun? | |
| Jetzt ist der Hype vorbei, die Partei beruhigt sich, die Mitgliederstürme | |
| haben nachgelassen. | |
| Nachgelassen? Ihre Partei verliert konstant Mitglieder. | |
| Das gehört zur Konsolidierung der Personalfrage. Und es hilft auch: Die | |
| Leute lernen sich jetzt besser kennen. Das reicht aber nicht, um ein | |
| Verkaufselement nach draußen zu transportieren. Es ist wirklich schwere | |
| Arbeit, sich zu profilieren, wenn man im Parteiensystem angekommen ist. | |
| Die Piraten sind im Parteiensystem angekommen? | |
| Ja. Wir sind ja nicht eingebrochen, sondern haben den Stimmenanteil | |
| erreicht, den wir vor dem Hype hatten. Manche sagen, das ist unser | |
| Markenkern. Soweit würde ich nicht gehen: Ich glaube eher, das ist unsere | |
| Grundlage, ohne dass wir viel Arbeit in die Partei stecken. | |
| Sie haben aber im Wahlkampf viel Arbeit in die Partei gesteckt. Sind die | |
| 2,2 Prozent jetzt der Anfang vom Ende? | |
| Nein, es ist viel mehr drin. Nur müssen wir beginnen, dafür zu arbeiten. | |
| Wir müssen Persönlichkeiten aufbauen, die glaubwürdig sind in unseren | |
| Themenfeldern. Der Ausgang der Bundestagswahl zeigt, dass in Fragen des | |
| Internets, Datenschutz, Urheberrechts eine Piratenpartei notwendiger denn | |
| je ist. Es wird keine NSA-Aufklärung geben mit Schwarz-Rot im Bund, und | |
| auch nicht mit Schwarz-Grün. | |
| Nun war das Thema NSA im Wahlkampf präsent … | |
| Warum wird immer uns vorgeworfen, wir würden nichts aus dem Thema machen? | |
| Genauso könnte man auch fragen, warum die SPD nichts daraus macht. Aber Sie | |
| haben recht: Wir haben die Bedeutung des Themas nicht genügend vermittelt | |
| und auch keine Bündnispartner dafür gesucht. Und wir haben mit zu vielen, | |
| wenn auch kompetenten, Stimmen gleichzeitig gesprochen. | |
| Sie haben gerade vom Aufbau von Persönlichkeiten gesprochen. Was ist mit | |
| Ihnen? Sie sind eines der Aushängeschilder der Piraten, als Vorsitzender | |
| des BER-Untersuchungsausschusses sind Sie häufiger als andere | |
| Fraktionskollegen in den Medien. | |
| Ich werde als einer der wenigen Piraten bundesweit überhaupt in der | |
| Öffentlichkeit auf unsere Partei angesprochen, etwa beim Einkaufen. | |
| Manchmal ist das unangenehm, wenn gerade ein Bundesvorstand – auf gut | |
| Deutsch – Blödsinn erzählt hat und die Leute böse sind auf die Partei. Das | |
| kriege ich dann halt ab. Mein Alltag ist untrennbar verbunden mit der | |
| Arbeit als Piratenpolitiker. | |
| Sind Sie mitverantwortlich am Wahldebakel, weil es Ihnen nicht gelungen | |
| ist, ihre Persönlichkeit im Wahlkampf zu vermitteln? | |
| Nein, es war nicht meine Veranwortung, weil ich gar nicht zur Wahl stand. | |
| Das muss ich schon betonen. Ich würde den Leuten quasi eine Lüge | |
| auftischen, wenn ich mich hingestellt und gesagt hätte: „Wählt die | |
| Piratenpartei wegen mir!“ Ich bin ja nicht für den Bundestag angetreten. | |
| Das ist ein schönes demokratisches Ideal… | |
| …ein sehr wichtiges sogar… | |
| …aber im Wahlkampf geht es ja auch um die Vermittlung von Inhalten der | |
| Partei. | |
| Das habe ich getan bei Veranstaltungen, die für mich Relevanz hatten. So | |
| war ich der einzige geladene Parteivertreter bei dem Protest der | |
| Flugroutengegner vor dem Kanzleramt. Das habe ich genutzt, um Wahlkampf zu | |
| machen. Aber es wäre der völlig falsche Ansatz gewesen, so zu tun, als wäre | |
| zum Beispiel ich als Abgeordneter des Berliner Landesparlaments ein Ersatz | |
| für den nicht gekürten Spitzenkandidaten. | |
| Aber Sie selbst verlangen doch profilierte Köpfe. | |
| Ja. Wir hätten den Schritt wagen können und eine Spitzenpersönlichkeit | |
| wählen sollen. Das wäre aber Aufgabe der Partei gewesen. Was ich tun | |
| konnte, habe ich getan. | |
| Jetzt verstecken Sie sich hinter Ihrer Partei. | |
| Das sehe ich nicht so. | |
| Aber Sie verkörpern Ihre Partei. | |
| Wer sagt denn, dass ich die Partei verkörpere? | |
| Sie werden von Bürgern im Supermarkt als Parteivertreter identifiziert. | |
| Ich werde mit der Partei verbunden – wenn ich behauptete, ich würde die | |
| Partei verkörpern, wäre ich arrogant und überheblich. Ich bin eine Person, | |
| die durch die Arbeit in der Partei in der Öffentlichkeit bekannt geworden | |
| ist - und ich wünsche mir, dass es mehr solche Personen gibt. Entsprechend | |
| habe ich mich im Wahlkampf zurückgehalten, um so die Möglichkeit zu | |
| schaffen, damit sich mehr Parteimitglieder profilieren können. | |
| Sie hatten vor eineinhalb Jahren bundespolitische Ambitionen und wollten | |
| Geschäftsführer werden. Wäre jetzt nicht der Zeitpunkt, es nochmal zu | |
| probieren, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen? | |
| Ja, das wäre es. Aber wer soll dann die ganze andere Arbeit machen? Es ist | |
| ein zweischneidiges Schwert. Ich bin Vorsitzender des | |
| BER-Untersuchungsausschusses: Das ist extrem wichtig für die Piratenpartei | |
| und für mich aufwändig, mich da thematisch immer weiter reinzuarbeiten. | |
| Deswegen wäre es eher verantwortungslos zu sagen, ich übernehme noch ein | |
| Parteiamt. | |
| Wer kann Ihre Partei denn sonst retten? | |
| Wir haben die Leute dafür, sehr sehr gute sogar, nicht zuletzt durch den | |
| Mitgliederzuwachs 2011. Das Problem ist nur, dass wir ihnen nicht die | |
| notwendige Beinfreiheit geben, wie das der einstige SPD-Kanzlerkandidat | |
| formuliert hat. Da stellt sich etwa die Frage nach der Bezahlung der | |
| Vorstände oder die innerparteiliche Frage nach deren Legitimation. Unsere | |
| Parteitage sind die größten demokratischen Versammlungen in Deutschland, | |
| wenn nicht sogar weltweit. Unsere Vorstände sind extrem stark demokratisch | |
| legitimiert. Gleichzeitig verspüren sie aber nicht die Freiheit, das auch | |
| auszuüben. | |
| Nun ja, es gibt einige Einzelgänger wie den früheren Geschäftsführer | |
| Johannes Ponader, die durchaus Alleingänge konnten. | |
| Ja, Ponader. Wir sollten hier aber nicht über Einzelfälle reden. | |
| An der Basis gibt es durchaus Stimmen die sagen, der Absturz bei der | |
| Bundestagwahl hätte vor allem heilende Wirkung für die Partei, unter | |
| anderem, weil es solche Alleingänger ausbremse, die sich nicht ums Wohl der | |
| Partei gekümmert haben. | |
| Ich halte gar nichts von einem Rückblick, derjenige oder diese Initiative | |
| haben der Partei geschadet. An eine Analyse muss man systematisch rangehen. | |
| Dass einzelne Personen ihre Meinung kompromisslos artikulieren, auch wenn | |
| sie sich nicht deckt mit dem Mainstream der Partei, ist ein hohes Gut. Das | |
| müssen wir pflegen. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um? Können wir nicht | |
| einfach diese Leute in ihren Themenbereichen unterstützen? | |
| Bisher war die Antwort meist ein Shitstorm - ein Begriff, den ihre Partei | |
| in den letzten Jahren populär gemacht hat, was auch viel über sie aussagt. | |
| Das stimmt so nicht ganz. Es gab auch viele inhaltliche Einzelkämpfer: | |
| Deren ganz klare Positionen sind am Ende im Wahlprogramm gelandet. Bei uns | |
| ist ein Basismitglied in der Lage, einen Bundesparteitag mit 2.000 | |
| Mitgliedern davon zu überzeugen, dass sein Programmantrag zu Europas | |
| Finanzsystem der Beste ist, und dafür eine Mehrheit zu bekommen. Wenn er | |
| aber keine Zeit hat, aufgrund seiner berulichen oder privaten Situation, | |
| selbst seinen Programmpunkt weiter zu vertreten, dann hat er doch ein Recht | |
| darauf, dass das ein von der Partei legitimierter Mensch tut. Das ist die | |
| Unterstützung von Mitmachkultur und Basisdemokratie, die es braucht. | |
| Und wie wollen Sie diese Delegierten bestimmen? | |
| Das entscheidet sich beim Parteitag Ende November in Bremen. Die Frage wird | |
| sein: Wie gestalten wir den Bundesvorstand? Werden die Themenbeauftragten | |
| endlich auch Sprecher? Die Lehre ist: Mehr Unterstützung, mehr Personen an | |
| die Öffentlichkeit, nicht nur einzelne. Und jedem einzelnen Piraten kann | |
| ich nur raten, keine Angst davor zu haben, sich selbst als Gesicht der | |
| Partei darzustellen. Man darf sich ruhig auch mal aus dem Fenster lehnen. | |
| Das ist doch eine Aufforderung für weitere Egotrips. | |
| Nein, das ist eine Aufforderung, mit den Persönlichkeiten, die man | |
| legitimiert für ein Amt, verantwortungsvoll umzugehen. Und die | |
| Persönlichkeiten als Ressourcen zu begreifen. | |
| Risikieren Sie damit nicht das Ende des Basisprinzips? | |
| Nein. Das hindert uns ja gar nicht daran, weiter basisdemokratisch | |
| Positionspapiere, Wahlprogramme zu entwickeln und selbst kurzfristige | |
| Entscheidungen via Liquid Feedback zu treffen. | |
| Ein Ergebnis der Bundestagswahl ist, dass auf Ihrer Berliner Fraktion nun | |
| noch mehr Druck lastet, es für die Gesamtpartei rauszureißen. Wie wollen | |
| Sie das schaffen? | |
| Wir haben ja insgesamt vier Fraktionen in den Landtagen, und alle müssen | |
| zusammen arbeiten und der Partei helfen. In Berlin geht es vor allem darum, | |
| dass wir die extrem kleinteiligen politischen Prozesse viel besser aufs | |
| Ganze beziehen und diese mit Personen verbinden. Wir müssen belegen, dass | |
| wir unsere Wahlversprechen angegangen sind. Zum Beispiel bereiten wir | |
| gerade eine Studie zum fahrscheinlosen Öffentlichen Nahverkehr vor, eines | |
| unserer zentralen Versprechen 2011, mit dem wir immer noch verbunden werden | |
| – obwohl es eigentlich eine FDP-Idee Anfang der 90er war. | |
| Warum dauert es zwei Jahre, bis Sie solche eine Studie starten? | |
| Wir haben ja fünf Jahre Zeit, um unsere Wahlversprechen umzusetzen. Wir | |
| haben jetzt zwei Jahre im Parlament gearbeitet – da herrscht ein | |
| Arbeitsalltag, der einen auch gerne mal auffrisst, der einen auch mal | |
| treibt. Wir müssen jetzt dahinkommen, unsere Themen zu treiben. | |
| In welchen Feldern haben sich die Piraten unverzichtbar gemacht im | |
| Abgeordnetenhaus? | |
| Etwa bei der parlamentarischen Kontrolle und Transparenz. Es gibt keine | |
| Fraktion, die mehr Sachinformationen ans Licht der Öffentlichkeit gebracht | |
| hat als wir. Damit müssen wir auch hausieren gehen. Dann gibt es unseren | |
| BER-Watch und die ganze Frage des Aufsichtsrats der Flughafengesellschaft, | |
| ein Spezialthema, mit dem man aber super punkten kann. Und wir ermöglichen | |
| Menschen ihre Sozialleistungen einzuklagen, weil die Jobcenter aufgrund | |
| unserer Arbeit ihre internen Papiere und Strukturen veröffentlichen müssen. | |
| Letzteres kommt direkt bei den Menschen an. | |
| Die nächste große Wahl ist die Europawahl im Mai 2014. Glauben Sie, die | |
| Piraten schaffen den Sprung über die 3 Prozent Hürde? | |
| Ja. | |
| Da müssen Sie sich aber noch deutlich steigern im Vergleich zur | |
| Bundestagswahl. | |
| Wir haben uns in der Vergangenheit schon mal deutlich gesteigert. Ich gehe | |
| davon aus, dass wir das noch mal schaffen. Bei der Europawahl spielen die | |
| Themen, mit denen wir assoziiert werden, eine große Rolle. Wir sind eine | |
| klar pro-europäische Partei, und wir müssen schauen, dass wir uns gegen | |
| einen nationalistischen Mainstream, der sich auch in Deutschland immer mehr | |
| abzeichnet, positionieren. | |
| Wäre ein Scheitern bei der Europawahl schlimm? | |
| Wir brauchen die Europawahl! Weil sie exakt unsere Themen betrifft. Auch | |
| die Kommunalwahlen sind wichtig für uns, weil sich die Partei dabei auf | |
| lokaler Ebene verfestigen kann. | |
| Welches Ziel ist realistisch? | |
| Vier Prozent. Derzeit. Wir stapeln jetzt mal besser tief. | |
| 11 Oct 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
| Bert Schulz | |
| ## TAGS | |
| Piratenpartei | |
| Berlin | |
| Piratenpartei | |
| Katharina Nocun | |
| Piraten | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Bus und Bahn für alle umsonst: Grüne haben noch ein Ideal | |
| Auch die Öko-Partei fordert nun kostenlosen Öffentlichen Nahverkehr für | |
| alle, finanziert durch Steuergelder. | |
| Bundesparteitag der Piraten: Eher ein kumpelhafter Moderator | |
| Ernüchtert und ratlos war die Stimmung beim Parteitag der Piraten. Der neue | |
| Vorsitzende Thorsten Wirth will und muss die Partei einen – wie, kann er | |
| noch nicht sagen. | |
| Spitzenpersonal der Piraten: Katharina Nocun verabschiedet sich | |
| Die politische Geschäftsführerin der Piraten kündigt ihren Rückzug an. | |
| Nocun kann sich die unbezahlte Arbeit nicht leisten. Ähnlich geht es Marina | |
| Weisband. | |
| Wahl in Berlin: Die Piraten: „Scheiß klarkriegen!“ | |
| Die Piraten geben sich nach dem Wahl-Fiasko selbstkritisch. Fraktionschef | |
| fordert Linksschwenk. | |
| Absturz der Piraten: Das Ende der großen Überschätzung | |
| Mit gut zwei Prozent ist das Scheitern der Netzpartei heftig, aber | |
| erwartet. Nicht einmal der NSA-Skandal brachte die erhoffte Trendwende. |