# taz.de -- Debatte Kunst im Kapitalismus: Das verstummte Prekariat | |
> Ökonomische Zwänge und Verdrängung aus dem urbanen Raum bedrohen die | |
> Kunst. Gebraucht wird mehr Selbstbewusstsein der Kulturschaffenden. | |
Bild: Seltenes Beispiel künstlerischen Selbstbewusstseins: die Besetzung des H… | |
Einer der schönsten Filme des vergangenen Sommers war der amerikanische | |
Off-Hollywood-Film „Frances Ha“. New York in Schwarz-Weiß. Eine Hipsterin, | |
die versucht, beruflich als Tänzerin zu reüssieren. Sie trennt sich von | |
ihrem Freund, weil sie nicht mit ihm zusammenziehen will, sie möchte sich | |
lieber weiter eine Wohnung mit ihrer besten Freundin teilen. Die Freundin | |
allerdings denkt selbst darüber nach, aus der WG auszuziehen – und tut es | |
schließlich auch. Für Frances heißt das: Sie muss sich eine neue Bleibe | |
suchen. | |
Es geht in diesem Film klar um mehr als das bloße Einzelschicksal: Es geht | |
um das moderne Prekariat, um Künstler, die in der heutigen Welt versuchen, | |
von ihrer Kunst zu leben. Die meisten bleiben auf der Strecke. Frances zum | |
Beispiel bekommt das angestrebte Weihnachtsengagement nicht, und auch sonst | |
keines – sie schafft es nicht in den Kern der Tanztruppe, sondern bekommt | |
lediglich den Job als Sekretärin des Tanzstudios angeboten. | |
Dieses Angebot schlägt sie zunächst aus. Nach dem Wohnungsproblem hat sie | |
jetzt auch ein Geldproblem: Ihr soziales Netz löst sich auf, ihre Eltern | |
können ihr nicht helfen – Frances kommt aus kleinbürgerlichen | |
Verhältnissen, aus denen sie über die Kunst ausgebrochen ist. Sie zieht | |
wieder in eine WG, zu Söhnen reicher Eltern. Ihr kleines Zimmer kostet | |
1.200 Dollar. | |
In Worten: eintausendzweihundert. Das sind 880 Euro. New Yorker | |
Verhältnisse, könnte man jetzt sagen. Aber diese New Yorker Verhältnisse, | |
sie werden auch nach Deutschland kommen. Verhältnisse, in denen die Mieten | |
für Kunsttreibende unerschwinglich sind. Verhältnisse, dank deren es zu | |
einem fortgesetzten Austausch der innenstädtischen Bevölkerungen kommen | |
wird. Arme raus, Reiche rein. Das Kapital wird es richten. | |
Dass sich diese Aussichten zudem nicht auf Berlin beschränken, muss man | |
angesichts der jetzt schon exorbitant hohen Mieten in anderen deutschen | |
Großstädten gar nicht mehr betonen. Und das alles verliert auch dadurch, | |
dass es nicht wirklich neu ist, wenig von seinem Schrecken. Die Schlagworte | |
der letzten Jahre zu dieser Debatte hießen Gentrifizierung, Prekariat, | |
Generation Praktikum, digitale Boheme. Und, ja, über diese Themen wurde | |
viel diskutiert – auch in dieser Zeitung. Das Problem aber blieb, bleibt | |
und wird nur immer größer. | |
## Kunst von Reichen für Reiche | |
Sicherlich ist „Frances Ha“ ein Milieufilm fürs Milieu, ein Hipsterfilm f�… | |
Hipster, und trotzdem könnte er größere Wirkung entfalten, wenn es etwa | |
heißt: „In New York muss man reich sein, um Kunst machen zu können.“ Denn | |
die Zukunft sieht eben nicht nur für New York so aus. Falls sich nichts | |
ändert, wird es im ausgehenden 21. Jahrhundert überall nur noch Kunst von | |
Reichen für Reiche geben. | |
Und das erscheint durchaus gewollt. Schuld ist nicht nur die zunehmende, | |
viel beschworene und genauso wenig bekämpfte Durchökonomisierung sämtlicher | |
Lebensbereiche. Schuld ist auch die Politik. Nicht nur was die | |
Immobilienblase betrifft. Nicht nur in ihrer berlusconiesken Variante à la | |
„Kunst ist Luxus für Linke und das Bildungsbürgertum, der gesellschaftliche | |
Mehrwert von Kultur eine Schimäre“. | |
Wenn das Kapital anrollt, muss die Kunst weichen, besonders die, die nicht | |
sofort zu Kapital werden kann. Das ist das neoliberale Credo in dieser | |
Frage. Dass dieses Credo nicht stimmt, interessiert nicht weiter – | |
Hauptsache, die Rendite stimmt und sie kommt schnell. | |
Dass Kunst aber das Urbane braucht, um zu entstehen, zu wachsen und dann | |
profitabel zu werden, wird gern außer Acht gelassen. Vernetzt sein kann man | |
bekanntlich auch digital, und was braucht das Prekariat anderes als die | |
Nachbarschicht, die ein- und ausreisenden Putzkolonnen, die morgens aus den | |
Satellitenstädten anreisen und abends wieder ab? Kulturträger, heißt es, | |
sind mobil geworden. | |
Dass Kultur aber dringend auf den direkten Austausch angewiesen ist – | |
soziale Kontakte, unmittelbare Berührung –, ist nur das geringste | |
Gegenargument. Das andere hat mit Stadt an sich zu tun: Wo sonst soll man | |
Beobachtungen erster Ordnung vornehmen? | |
## Kunst braucht Selbstbewusstsein | |
Was das Prekariat in dieser bedrohlichen Lage braucht, ist daher mehr als | |
öffentliche Unterstützung im Kampf gegen hohe Mieten, gegen niedrige | |
Zeilenhonorare, gegen die Niedriglohnsektoren, gegen unsichere Jobs. Das | |
sind Problemgebiete, die es mit seinen Nachbarn aus den „bildungsfernen“ | |
Schichten teilt – jenen Menschen, die das Prekariat gängigen | |
Gentrifizierungstheorien zufolge zunächst selbst verdrängt, kurz bevor es | |
die durch „Künstlerszene“ aufgewerteten Kieze verlassen muss. Nein, was das | |
Prekariat dringend braucht und zeigen muss, ist neues Selbstbewusstsein – | |
und eine Stimme. Es muss seine Lage erkennen und in vollem Bewusstsein aus | |
dieser Lage heraus sprechen. | |
Ein Beispiel dafür, wie das aussehen könnte, hat zuletzt Max Pahl geboten. | |
Der bislang unbekannte Blogger wollte sich um ein Volontariat in der | |
Pressestelle eines großen deutschen Verlags bewerben, erkannte dann aber, | |
dass das Volontariat mit genau 500 Euro im Monat entlohnt werden sollte – | |
zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig, es sei denn, man wohnt in einem | |
Selbstversorgerdorf. Rückfragen beantwortete der Verlag nicht: Falls sich | |
einer nicht bewirbt, tun es eben immer noch 500 andere, die sich sich so | |
ein Volontariat dank familiärer Unterstützung oder sonstiger Reserven | |
leisten können. | |
Pahl beschrieb den Fall [1][Mitte September in seinem Blog] – und entfachte | |
damit einen Shitstorm gegen den Verlag, der am Ende klein beigab und die | |
Volontärsvergütung verdoppelte. Aber solche Happy Ends sind selten. Auch | |
Happy Ends wie das der Frances Ha: Sie nimmt den Job als Sekretärin | |
schließlich doch an. Im realen Leben, das ist dabei klar, hätte sie diesen | |
Ausweg nicht mehr gehabt. Da wäre der zunächst verschmähte Sekretärinnenjob | |
nämlich längst weg gewesen. | |
Für die Kunst kann die Kunst deshalb weder in der Anpassung noch im | |
Schweigen liegen, sondern allein darin, neues Selbstbewusstsein zu zeigen – | |
ohne Künstler entsteht nämlich nichts, nicht einmal Kunst. | |
29 Oct 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://maxpahl.wordpress.com/2013/09/11/emporung-uber-kiwi/ | |
## AUTOREN | |
Rene Hamann | |
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