# taz.de -- Bildungspolitik in der Türkei: Wenn die Sitte kommt | |
> Im Kampf gegen „unmoralische“ Lebensweisen lässt Premier Erdogan nun | |
> Studentenunterkünfte und Cafés kontrollieren. Hochschüler protestieren. | |
Bild: Bevormundung? Nein danke! Studentenproteste am vergangenen Mittwoch in Is… | |
ISTANBUL taz | Als Özge Altin am vergangenen Freitag nach Hause kam, | |
staunte sie nicht schlecht. Die gesamte Nachbarschaft war in Aufruhr, ihr | |
Haus stand praktisch kopf. 30 Polizisten, Beamte des Ordnungsamts und des | |
Finanzamts, seien da gewesen und alles nur ihretwegen. Die gesamte | |
Nachbarschaft war von den Beamten befragt worden: „Was macht Özge, wie oft | |
bekommt sie Besuch von Jungen, besucht sie ihre Familie regelmäßig, und was | |
macht ihre Freundin?“ | |
Özge war geschockt, so etwas war ihr noch nie passiert. Seit fünf Jahren | |
lebt die 25-jährige Soziologie-Masterstudentin mit einer Kommilitonin in | |
einer kleinen Apartmentwohnung in Tophane, einem Bezirk in Beyoglu, der | |
unterhalb der Fußgängerzone Istiklal Caddesi liegt und bis zum Bosporus | |
reicht. Nie hatte es Probleme gegeben, auch mit ihrem Vermieter nicht, der | |
selbst erklärter Anhänger der AKP ist. Offenbar hatte ein Nachbar die | |
Polizei informiert, dass in der möblierten Wohnung zwei Studentinnen allein | |
wohnen. | |
Das reicht in der Türkei neuerdings, um Besuch von der Polizei zu bekommen. | |
Außer in der Wohnung von Özge führte die Polizei am Freitag noch in anderen | |
Studentenwohnungen, Studentenheimen und selbst in Cafés, die häufig von | |
Studenten besucht werden, Razzien durch. Dabei wurde nach unverheirateten | |
Paaren geforscht, Ausweise wurden kontrolliert, Lebensgewohnheiten erfragt | |
und Ordnungsstrafen verhängt – angeblich wegen Ruhestörung. | |
Ausgelöst wurden diese sittenpolizeilichen Aktivitäten durch eine Bemerkung | |
von Premier Recep Tayyip Erdogan, der zunächst in einer parteiinternen | |
Sitzung und später noch einmal in der Öffentlichkeit kritisiert hatte, dass | |
es immer noch Studentenwohnheime gebe, in denen Frauen und Männer unter | |
einem Dach lebten. Die konservativ-islamische AKP könne das nicht länger | |
dulden. Er werde die Polizei und die zuständigen Provinzgouverneure | |
beauftragen, sich darum zu kümmern. | |
## Falsche Meldungen, richtige Meldungen | |
Als erste Gerüchte aus der parteiinternen Sitzung über diesen neuen | |
Eingriff Erdogans in die Privatsphäre der Türkinnen und Türken aufkamen, | |
dementierte Vizeministerpräsident und Regierungssprecher Bülent Arinc | |
zunächst entschieden. „Diese Meldungen sind völlig falsch“, sagte er. Doch | |
Erdogan fiel seinem Stellvertreter Arinc sofort ins Wort. „Diese Meldungen | |
sind völlig richtig“, verkündete er am Rande einer Skandinavienreise, „wir | |
werden solche Praktiken nicht länger dulden.“ | |
Arinc, der mit dem jetzigen Präsidenten Abdullah Gül und Erdogan zu den | |
drei Gründervätern der AKP gehört, will sich von Erdogan nicht einfach so | |
abwatschen lassen und fordert nun öffentlich Genugtuung. Doch der Konflikt | |
in der AKP ändert an der Sache erst einmal gar nichts. | |
Nachdem die Kopftuchdebatte endgültig im Sinne der AKP entschieden ist, hat | |
Erdogan ein neues Konfliktfeld zum Thema gesellschaftliche Moral eröffnet, | |
in dem künftig nur noch seine islamistisch-patriarchalische Grundhaltung | |
ausschlaggebend sein soll. In wenigen Tagen hat sich deshalb die Debatte | |
über studentisches Zusammenleben zu einem neuen gesellschaftlichen | |
Großkonflikt entwickelt. | |
Während seine Hardcoreanhänger ihm begeistert zustimmen und nun reihenweise | |
vermeintlich sittenlose Studentinnen und Studenten bei der Polizei | |
denunzieren, ist der Rest der Gesellschaft bis weit in die Reihen seiner | |
eigenen Partei hinein geschockt, dass Erdogan jetzt allen, die seine | |
Moralvorstellungen nicht teilen, die Sittenpolizei auf den Hals schicken | |
will. | |
Nicht nur die Studenten protestierten am Wochenende in etlichen Städten der | |
Türkei, auch EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle protestierte gegen die | |
Eingriffe in die Privatsphäre. Selbst bislang völlig erdogantreue | |
Kolumnisten, wie Mustafa Akyol und Ali Bayramoglu, werden langsam an ihrem | |
Idol irre. „Wenn Erdogan so weitermacht“, schrieb Akyol vor drei Tagen, | |
„ist er künftig nicht mehr wählbar.“ | |
10 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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