# taz.de -- Die Wahrheit: Werkstoff Locke | |
> Friseure beherrschen die einfachsten Frisuren nicht mehr, besonders wenn | |
> es gilt, die männliche Lockenpracht vorsichtig zu stutzen. | |
Bild: Man sollte seinen Friseur während des Haareschneidens immer im Auge beha… | |
Haare – selbst nach Jahrtausenden Menschheitsgeschichte sind sie immer noch | |
ein Reizthema. Auch ich habe welche, wie ich zugeben muss. Die meisten | |
davon sprießen auf meinem Kopf, wo sie von einer launenhaften Natur dazu | |
gezwungen werden, sich nach dem Waschen einigermaßen unberechenbar zu | |
locken und zu kringeln. | |
In böswilliger Verkennung dieser angeborenen Behinderung gratulieren mir | |
Menschen mit normalglatten Haaren morgens regelmäßig zu meiner „frischen | |
Dauerwelle“ oder meinem „schicken Minipli“ und brauchen dann nur kurz zu | |
warten, ehe sich die Umstehenden vor Lachen nur so biegen. Gegen solchen | |
Spott habe ich mir zwar ein dickes und unablässig wachsendes Fell zugelegt, | |
aber alle drei bis sechs Monate wird es selbst mir zu viel mit dem zickigen | |
Gewöll da oben. | |
In solchen Situationen suche ich den türkischen Friseursalon auf, der sich | |
an der nächstgelegenen U-Bahnstation befindet. Man muss da praktisch nie | |
warten, und der Schnitt, Waschen inklusive, ist für zwölf Euro ganz | |
passabel, jedenfalls wenn man so uneitel ist wie ich. Bedauerlich ist bloß, | |
dass die ständig wechselnden jungen Männer, die dort arbeiten, mit dem | |
Werkstoff Locken rein gar nichts anzufangen wissen. Von der ersten Sekunde | |
an, die sie die Schere durchs nasse Haar klappern lassen, muss ich sie | |
immer wieder ermahnen: nicht zu kurz! Berücksichtigen Sie bitte die | |
Eigenheiten des krausen Materials, das sich beim Trocknen überraschend | |
stark zusammenzieht! | |
Als abschreckendes Beispiel erzähle ich dann stets von meinem zweiten | |
Besuch in jenem Laden, als mein Stirnhaar wegen einer solchen | |
Fehleinschätzung derart beherzt gestutzt wurde, dass ich hinterher eine | |
absolut lächerliche Kleinmädchenponyfrisur besaß. Es dauerte seinerzeit | |
eine Ewigkeit, bis die erste der von mir so geschätzten Korkenzieherlocken | |
wieder zu den Brauen hinabgewachsen war. | |
Da die Kerle aber meist gar nicht richtig hinhören, lasse ich seitdem | |
keinen von ihnen mehr aus den Augen, nicht während des Haareschneidens und | |
nicht danach. Die jungen Friseure können sich nämlich auch nicht | |
vorstellen, dass man zum Abschluss der Prozedur kein Gel ins Haar möchte. | |
Stets reiben sie sich schon genüsslich die Hände, in exquisiter Vorfreude | |
auf die Gelmassen, die sie gleich auf meinen Kopf schmieren werden, und | |
greifen schließlich ungefragt zur Geltube. | |
Wenn ich dann schnell dazwischengehe und andeute, ich könne auf Gel getrost | |
verzichten, da das zu der Zeit, als ich frisurentechnisch sozialisiert | |
wurde, durchaus noch nicht Usus war, schlägt mir blankes Unverständnis | |
entgegen. „Wie? Kein Gel?“, schnappen sie. „Nein, wirklich nicht“, fauc… | |
ich, worauf ihre Blicke spöttisch, ja beinahe angeekelt über die von ihnen | |
soeben verschandelte Haartracht gleiten, die sie mit dem Schmierstoff | |
gründlich zu planieren gedachten, um ihr auch noch den letzten Rest an | |
Widerspenstigkeit auszutreiben. | |
## Wunder der Gel-Technologie | |
Diese fürchterliche Frisur wollen Sie doch wohl nicht einfach so durch die | |
Gegend tragen, scheinen ihre Augen zu schreien, ohne letzte Vollendung | |
durch die Wunder unserer Gel-Technologie! Ich merke dann immer wieder, dass | |
es sich für diese Männer um ein Naturgesetz zu handeln scheint: Wer Locken | |
hat, schmiert sich was hinein! Wozu hat man sonst Locken? | |
Verweigere ich weiterhin trotzig die klebrige Substanz, erlischt stets | |
etwas in ihren Augen. Ich weiß dann ganz genau, dass sie mich für einen | |
fehlgeleiteten Verrückten halten, der modisch mindestens im vorigen | |
Jahrhundert steckengeblieben ist. Auch das dickste Trinkgeld meinerseits | |
kann daran nichts mehr ändern. | |
Beim Besuch in der vergangenen Woche erwartete mich jedoch ein Neuer, der | |
sofort und umstandslos auf meine Stirnlocken losging. Als die eine Seite | |
fiel – Schnipp! –, rief ich entsetzt: „Halt! Das ist doch viel zu kurz!“ | |
Er, unbeirrt: „Nein, ist richtig so!“ Und – Schnapp! – fiel auch die an… | |
Seite. Während ich fassungslos in den Spiegel starrte, beteuerte der Ganove | |
ein ums andere Mal, die Länge sei genau richtig. Nur so passe sie zur | |
restlichen Frisur, die ja ohnehin später mit Gel in Form gebracht werde! | |
Nachdem ich dieses Ansinnen zutiefst empört und in ungewohnt barschem Ton | |
abschlug, gelang es ihm für den Rest des unerquicklichen Vorgangs, noch | |
beleidigter zu gucken als ich. | |
Mit meinen verstümmelten Haaren traue ich mich nun allerdings kaum noch | |
unter Leute. Seit Tagen liebäugele ich deshalb mit dem erstmaligen Kauf | |
einer Tube Gel: Wenn ich schon aussehe wie ein Idiot, kann ich mich auch | |
wie ein solcher zurechtgelen. | |
Aber beim nächsten Mal, also in ungefähr einem Jahr, werde ich mir | |
selbstverständlich einen neuen Friseursalon suchen müssen! | |
1 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Mark-Stefan Tietze | |
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