# taz.de -- Die Wahrheit: Tante Lola lebt | |
> Der kleine Sexshop von nebenan feiert ein großes Comeback und entwickelt | |
> sich zum intimen Treffpunkt der Nachbarschaft. | |
Bild: Im kleinen Sexshop nebenan kann man Nachbarschaft spüren. | |
Alles wirkt so vertraut: Die Türglocke bimmelt, bunte Plastikstreifen wehen | |
mir entgegen. Schummriges Rotlicht fällt auf den schmuddeligen Tresen mit | |
der Waage, an der der 62-jährige Heinz P. gerade gebrauchte VHS-Cassetten | |
zum Kilopreis abwiegt. Alles weist auf einen guten alten Sexshop hin, wie | |
ihn die meisten von uns noch aus Jugendtagen kennen, doch der Eindruck | |
täuscht: Keine zwei Wochen ist es her, dass der Verein "Tante Lola e. V." | |
sein Ladenlokal eröffnet hat, um eine Tradition wiederzubeleben, die | |
andernorts längst verlorengegangen ist. | |
Gewiss ein Dutzend Neugieriger schiebt sich an mir vorbei, mit | |
hochgeschlagenem Mantelkragen und ausgebeulter Hose. Schon jetzt übertrifft | |
der Erfolg des ungewöhnlichen Projekts alle Erwartungen. Die | |
Registrierkasse klingelt im Fünfminutentakt, während Videos, Strapse und | |
asiatische Lustkugeln in diskret unbeschriftete Packpapiertüten wandern. | |
"Wir haben den Laden als Non-Profit-Organisation gegründet, wollten | |
eigentlich nur Bürgersinn zeigen", freut sich Frührentner Heinz P., der | |
gemeinsam mit Spätaussiedlerin Bianca Z. die Geschäftsleitung übernommen | |
hat. "Gerade hier auf dem Land haben doch viele nur einen Videorecorder, | |
aber nichts mehr, was sie reinstecken können." | |
Mit Hingabe kümmern sich die beiden Ehrenamtlichen um die Spezialwünsche | |
ihrer Kundschaft. Was nicht da ist, wird bestellt: Hi-Heels in Größe 49, | |
eine Eskimo-Gummipuppe, Kondome, die wie früher noch richtig nach Kondom | |
schmecken. | |
Trotz des Andrangs lassen es sich die zwei nicht nehmen, jeden | |
Neuankömmling namentlich zu begrüßen: "Gott zum Gruß, Frau Dr. Pötter!", | |
ruft Bianca Z. soeben. "Wie ist das Befinden der werten Geschlechtsteile?" | |
Die Kunden danken es mit glutvollem Erröten und bedingungsloser Treue. Es | |
scheint, als ob die kleine niedersächsische Gemeinde ihre soziale Mitte | |
wiedergefunden hat. | |
Früher nämlich gab es so einen kleinen Tante-Lola-Laden an jeder Ecke. Für | |
viele ältere Menschen war er die einzige Möglichkeit, sich mit dem | |
täglichen Bedarf zu versorgen und mal mit anderen ins Gespräch zu kommen - | |
ein Ort, an dem man anschreiben lassen konnte, wenn der Druck am Monatsende | |
zu groß wurde. In den letzten Jahren jedoch verschwanden die | |
inhabergeführten Läden, wurden durch anonyme Kaufhallen mit steriler | |
Beleuchtung und unfreundlichem Personal ersetzt. In Scharen wanderten die | |
Konsumenten erst zu den Erotikversandhäusern und dann ins Internet ab, | |
ganze Landstriche hatten plötzlich keine funktionierende Pornoinfrastruktur | |
mehr. | |
Junge Leute verließen solche Gegenden, um ihr Glück woanders zu suchen. | |
Zurück blieben die Alten, die Armen und die Technikverweigerer. Doch immer | |
mehr von ihnen vermissten den persönlichen Schnack an der Ausleihtheke, den | |
gepflegten Plausch an den Vitrinen mit den Handschellen, Gleitcremes und | |
Muschikitzlern, das Schwätzchen über Gott und die Welt. | |
So ging es auch Heinz P. und Bianca Z. Vor etwa einem Jahr aber hatten sie | |
an der Theke des Dorfkrugs die rettende Idee gegen Vereinzelung und | |
Einsamkeit: "Warum nehmen wir die Sache nicht selber in die Hand? Zum | |
Beispiel den Superdildo ,Goliath' für 74,95 Euro?" Statt endlos | |
weiterzulamentieren, machten sich die beiden auf die Suche nach toleranten | |
Gleichgesinnten mit viel Tagesfreizeit. Nach Vereinsgründung wurde in | |
Eigenleistung eine leerstehende Reinigung renoviert, der Kontakt zu | |
chinesischen Lieferanten aufgenommen, und als endlich die bürokratischen | |
Hürden genommen waren, konnte die große Eröffnung gefeiert werden. | |
"Der Laden schlug ein wie eine Bombe, eine Sexbombe gewissermaßen", grinst | |
Heinz P. schmierig. "Das halbe Dorf kam angeschlichen, viele zwar mit | |
hochgeschlagenem Kragen, aber hier kennt ja nun wirklich jeder jeden - | |
nicht wahr, Herr Pfarrer?" Widerstrebend löst sich der Ortsgeistliche von | |
der Klinke der Videokabine und schmunzelt uns mit verstellter Stimme zu: | |
"Als der Heinz und die Bianca jedem von uns ein Gläschen Sekt spendiert | |
haben - Natursekt natürlich -, das hat unsere Nachbarschaft | |
zusammengebracht." Seither vergeht kein Tag, an dem der Pfarrer die beiden | |
nicht in seine einhändiges Nachtgebet einschließt. | |
Und auch Heinz P. versteht langsam, welch unschätzbaren Dienst er seinem | |
Dorf erwiesen hat. "Wenn die Tabus fallen, steigen Herzlichkeit und | |
Wir-Gefühl", brummt er zufrieden und nimmt die Hand aus der Hose des | |
Geistlichen. Seine Beobachtung: Insbesondere das gemeinsame Granteln über | |
die ständig steigenden Buttplug-Preise schweiße eine Gemeinschaft zusammen. | |
"Angeblich sind die erdölexportierenden Länder schuld - ja, ja, wers | |
glaubt!", schimpft er in die Menge, und der Pfarrer wie auch alle anderen | |
Anwesenden stimmen lautstark ein, ehe sie unter der Ladentheke | |
verschwinden. | |
Die ermutigenden Geräusche bürgerschaftlichen Engagements begleiten mich | |
noch, als ich den kleinen Laden längst verlassen habe. Mit Sicherheit wird | |
er anderswo bald Nachahmer finden - vielleicht sogar bei uns unten im Haus? | |
28 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Mark-Stefan Tietze | |
## TAGS | |
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