# taz.de -- Verfassung in der Türkei: Erdogan ist gescheitert | |
> Das Machtstreben des Regierungschefs verhindert einen Konsens. Das wird | |
> den Friedensprozess mit den Kurden erheblich erschweren. | |
Bild: Sonnenuntergang über Istanbul: Aus Erdogans präsidialen Träumen wird e… | |
ISTANBUL taz | Hunderte von Arbeitsstunden wurden investiert, Millionen | |
Lira ausgegeben, und am Ende war dann alles umsonst. Das Großprojekt der | |
türkischen Regierung für diese Legislaturperiode, die Verabschiedung einer | |
vollständig neuen, freiheitlichen und demokratischen Verfassung, wurde in | |
diesen Tagen still und heimlich begraben. | |
Obwohl noch vor zwei Tagen alle großen Wirtschaftsverbände, darunter auch | |
die der AKP nahe stehenden Organisationen, heftig protestierten, blieb | |
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bei seiner Entscheidung: Die Arbeit | |
an der Verfassung wird eingestellt. | |
Gleich nach der Wahl im Juni 2011 war vom Parlament eine Kommission aller | |
Parteien eingesetzt worden, die den Auftrag bekam, dem Hohen Haus | |
baldmöglichst einen Entwurf einer neuen Verfassung vorzulegen, die die | |
geltende, noch von den Putschmilitärs 1982 durchgesetzte ablösen sollte. | |
Zwar hatte es immer wieder Verfassungsänderungen gegeben, doch alle | |
Parteien waren sich einig, dass eine moderne, europakompatible Türkei eine | |
neue freiheitlichere Verfassung braucht. | |
## Streit um das Staatsvolk und seine Sprache | |
Das stellte sich aber auch schon bald als der einzige Punkt der | |
Übereinstimmung heraus. Nachdem die Kommission über Monate Experten, | |
Verbandsvertreter, NGOs und Wirtschaftsleute gehört hatte, stockte der | |
Prozess genau an dem Punkt, an dem es ans Eingemachte gehen sollte. | |
Das begann schon bei der Präambel, die das Staatsvolk beschreibt, und hörte | |
bei der Frage, was die offizielle Sprache der Republik sein soll, nicht | |
auf. Während die geltende Verfassung ausschließlich von Türken und der | |
türkischen Sprache redet, sollte eine neue Verfassung auch den Kurden das | |
Gefühl geben, gleichberechtigt dazuzugehören. Das wollte der | |
nationalistische Flügel des Parlaments nicht akzeptieren. | |
Womöglich hätte es in der Frage der Minderheitenrechte noch einen | |
Kompromiss gegeben. Der Todesstoß für die neue Verfassung war aber die | |
Forderung von Erdogan, dem Staatspräsidenten zukünftig sehr viel mehr | |
exekutive Rechte einzuräumen als bisher, also eher eine französische als | |
eine deutsche Republik. | |
## Erdogan wollte eine Präsidialverfassung | |
Bislang hat in der Türkei der Ministerpräsident die Macht und der Präsident | |
eher repräsentative Aufgaben. Mit seinem beabsichtigten Wechsel ins | |
Präsidentenamt Mitte nächsten Jahres wollte Erdogan seine jetzige Macht | |
mitnehmen und forderte deshalb eine auf ihn zugeschnittene neue Ordnung. | |
Das stieß dann jedoch bei allen Oppositionsparteien auf heftige Ablehnung | |
und war selbst innerhalb der regierenden AKP nicht allen Abgeordneten zu | |
vermitteln. Auch die kurdische BDP wollte nach einigem Zögern dabei nicht | |
mitmachen, selbst wenn es im Gegenzug einige Zugeständnisse an die | |
Minderheit gegeben hätte. | |
Als deutlich wurde, dass eine Präsidialverfassung rechtzeitig vor der Wahl | |
zum neuen Präsidenten im August 2014 keinesfalls mehr durchkommen würde, | |
sagte Erdogan das Projekt Verfassung einfach ab und ließ seine | |
Parteivertreter an der letzten Sitzung der Kommission nicht mehr | |
teilnehmen. | |
Das Scheitern macht nicht nur deutlich, dass der Demokratisierungsprozess | |
der Türkei seit Jahren blockiert ist. Statt die Rechte der Individuen | |
gegenüber dem Staat auszubauen, schränkt die Regierung Erdogan | |
Freiheitsrechte in der Praxis immer mehr ein. | |
Verheerend wird sich das Fehlen einer neuen Verfassung aber vor allem auf | |
den Friedensprozess mit den Kurden auswirken. Die wichtigsten Forderungen | |
der kurdischen Minderheit, wie die Gleichberechtigung ihrer Sprache oder | |
mehr Autonomie auf kommunaler und regionaler Ebene, lassen sich mit der | |
geltenden Verfassung nicht realisieren. Mindestens bis zu den nächsten | |
Parlamentswahlen im Juni 2015 ist nun jeder weitere Schritt blockiert. | |
1 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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