Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Revival von Vinylplatten: Originalität für die Masse
> Die Nachfrage nach Schallplatten ist wegen des Internets wieder
> gestiegen. Damit verbunden sind aber fragwürdige Geschäftspraktiken und
> hohe Preise.
Bild: Nach wie vor beliebt: die Schallplatte.
Nehmen wir an, Sie waren seit zehn Jahren nicht mehr in einem
Schallplattengeschäft oder auf einer Plattenbörse. Sie werden überrascht
sein, denn vieles hat sich geändert. Ein Accessoire ist jedoch erhalten
geblieben: 2003 – und ganz genauso 1983 – baumelten prall gefüllte
Baumwolltaschen an den Händen leicht übergewichtiger Herrschaften mit
grauen Pferdeschwänzen. Auch 2013 hängen fast identische, inzwischen
moderne Taschen über den Schultern von Twentysomethings, Typ
hochgekrempelte Chinos oder Skinny Jeans.
Früher gab es zwei Arten von Plattenbörsenstammgästen: Die einen ließen
ihre mit Beatles-Platten prallgefüllten Jutebeutel von Beatles-Fach zu
Beatles-Fach baumeln, die anderen schlichen von einem Rolling-Stones-Fach
zum nächsten. Heute finden wir eine wilde Musikmischung im Stoffbeutel
minderer Qualität: Klassiker wie Bob Dylan neben The Smiths und weiteren
Vertretern des Punk/New-Wave-Kanons.
Peter Patzek, seit 44 Jahren Händler und Betreiber der Institution
„Platten-Pedro“ in Berlin-Charlottenburg, bestätigt diesen Trend: „Seit
2006 gibt es eine gesteigerte Nachfrage nach Vinyl. Inzwischen hab ich
hauptsächlich junge Leute im Laden. Die waren noch gar nicht geboren, als
die Platten rauskamen.“ Wie Hippiekinder nach einem Bausparvertrag sehnt
sich eine neue, mit Nullen und Einsen aufgewachsene Generation Y nach
Haptik.
Gute alte Gegenstände. Man kann sie anfassen, ins Regal stellen, im
Idealfall geben sie ein schönes Bild an der Wand ab, steigen eventuell
sogar im Wert. Und ihre Besitzer können sich an der Musik erfreuen, die in
den Rillen eingeritzt ist. „Der Nachwuchs hat festgestellt, dass eine
Platte viel besser klingt“, ist Pedro überzeugt. Sind LPs somit nicht die
allerbesten Sammelobjekte? Im Vergleich zu Briefmarken auf jeden Fall.
Die gestiegene Nachfrage hat inzwischen zu Kapriolen auf dem Markt geführt.
Von jedem erdenklichen Album gibt es eine Nachpressung. Oft zu überteuerten
Preisen. Eine groteske Umkehrung der Verhältnisse. Für ein Album wie
„Rumours“ von Fleetwood Mac, das seit seinem Erscheinen 1977
zigmillionenfach verkauft wurde und in jeder Flohmarktkiste steht – sein
Preis sollte daher die 1-Euro Grenze nie überschreiten –, muss man nun 27
Euro auf den Tisch legen.
## Mangelware Secondhand
„Das ist eigentlich noch billig“, sagt der Besitzer des Kreuzberger
Plattenladens Space Hall, auf den Preis angesprochen. Er möchte gern anonym
bleiben. „Die wird von Warner zum Einkaufspreis von 33 Euro angeboten, dann
würde sie circa 40 Euro im Handel kosten. Die großen Firmen sehen diesen
neu entstehenden Markt und schlagen gnadenlos zu.“
Bei vielen kleinen, auf Secondhand-Vinyl spezialisierten Plattenläden
nehmen Nachpressungen inzwischen einen großen Raum ein. „Die Läden haben
heutzutage das Problem, dass es keinen Nachschub an gebrauchter Ware mehr
gibt“, erörtert der Mann von Space Hall. „Der Markt wird immer kleiner.
Denn wer sich heute Platten kauft, will sie übermorgen nicht wieder
verkaufen. Statt zuzumachen, stellen die Läden dann
Wiederveröffentlichungen in die Regale.“
Wer bezahlt solche Preise? Vor allem die, die bei der Umstellung auf das
neue Format Compact Disc, ab Mitte der Achtziger, ihre Platten verhökert
haben. Solvente Best-Ager, die ihr Geld ja für irgendetwas ausgeben müssen.
Auch die junge Generation stopft Vinyl vermehrt in ihre Stofftaschen. Das
Gefühl, sich nach dem Suchen die Hände waschen zu müssen, ist diesen
Digital Natives fremd – sie sind es gewohnt, dass alles sofort erhältlich
ist, auch wenn sie entsprechend mehr dafür bezahlen müssen.
## Früher lag der Fokus auf Raritäten
Zudem fällt die Frage, welche Platten man kaufen sollte, leichter, wenn
Labels wie „4men with Beards“ schon eine Vorauswahl getroffen haben. Das
Album muss ja gut sein, wenn ein Label weder Mühe noch Kosten scheut, es
erneut herauszubringen.
Bevor das Neuauflegen von bereits veröffentlichten Klassikern als
Geschäftsmodell entdeckt wurde, lag der Fokus auf Raritäten, also Alben,
die als Originalpressung schwer zu finden waren. Etwa des früh verstorbenen
Singer-Songwriters Nick Drake, einst ein gut gehütetes Geheimnis und
unbezahlbar. Heute kann, dank unzähliger Reissues (und eines
Volkswagen-Werbespots) kaum mehr von einem Geheimtipp gesprochen werden.
Schon kursiert die Redewendung „der Nick Drake unter den Geheimtipps“.
In Plattenläden wuchern Nachpressungen wie Unkraut, nun bestücken sie auch
Kaufhäuser wie Dussmann in Berlin. Auch Urban Outfitters, deren Angebot von
Wikipedia etwa als „vintage, bohemian, hipster“ beschrieben wird und somit
genau die Skinny-Jeans-Klientel anspricht, bietet neuerdings Schallplatten
an. Dazu werden auch Plattenspieler im Retrolook mit Tweedüberzug
angeboten.
## Peruanische Teenbands
Bei Mediamarkt und Saturn wissen die Angestellten zwar nicht, was ein
Single-Puck ist, doch in der Musikabteilung gibt es einen nicht
unerheblichen Anteil an Vinylneuware. Neben Rock-Klassikern stößt man auch
auf peruanische Teen-Bands, die 1961 eine Single in einer Auflage von 200
Stück gepresst haben.
Einige Unbeugsame sträuben sich gegen den Trend. Besonders in der
Northern-Soul-Szene ist es geradezu verboten, als DJ Reissues aufzulegen.
Zum einen gilt es als unsportlich, eine „gute“ Platte zu kaufen, ohne sich
durch Vinylhaufen gewühlt zu haben. Zum anderen verliert die eigene
Sammlung und somit auch Existenz als DJ an Exklusivität, wenn alles für
alle erhältlich ist.
Im Gegensatz zur Individualität der Heuhaufennadel-Charakteristik einer
selbst erstöberten Secondhand-Platte gleicht die
180-Gramm-Wiederveröffentlichung einer H & M-Hose. Originalität für die
Masse. Überhaupt, die Nachpressung auf 180 Gramm schwerem Vinyl. Sie ist
der SUV unter den Reissues, ein Angeberformat, das nur existiert, um hohe
Preise zu rechtfertigen. Vielleicht profitiert man, wenn man, wie im Film
„Sonnenallee“, wo ein Doppelalbum ein Leben rettet, in einen Schusswechsel
gerät und die Platte vor dem Herzen trägt. Ansonsten klingen 180 Gramm
nicht per se besser als eine wabbelige LP aus den achtziger Jahren.
## 14 Euro für Versand
Eine Wertigkeit wird vorgegaukelt, die Vinylplatte verwandelt sich in ein
Coffeetable-Objekt. Pedro fasst das auf seine unnachahmliche Art zusammen:
„180 Gramm kannste vergessen, die Platte kann so dünn sein, wie sie will,
solange die Nadel nicht auf der anderen Seite durchkommt. Jetzt kommt die
Industrie mit 200 Gramm, reine Geschäftemacherei.“ Der Besuch eines
Plattenladens war schon mal aufregender.
Vergleicht man die Preise der getätigten Einkäufe mit Onlineplattformen wie
Discogs, passiert es immer öfter, dass die Preise identisch sind. Auf die
Frage, ob ich mich verlesen habe oder ob die Platte wirklich 69 Euro
kostet, bekam ich von einem Händler, über den Computer gebeugt, zu hören:
„Im Internet kostet diese 55 Euro, dazu kommen 14 Euro für den Versand, und
schon sind wir beim Preis.“
Bei Space Hall lautet die Antwort auf die Frage nach der Methode der
Preisbestimmung. „Na, dafür gibt es ja das Internet.“ Bedeuten die im Netz
verlangten Preise überhaupt, dass so viel für die Platten tatsächlich
gezahlt werden, und machen sich Plattenläden damit nicht selbst obsolet?
Warum dann überhaupt einen Laden besuchen, wenn alles bequem per Mausklick
zum gleichen Preis verfügbar ist?
## Es gibt auch andere Plattenläden
Und für ihre übermäßige Freundlichkeit sind Plattenhändler im Allgemeinen
und Berliner Plattenhändler im Besonderen ja auch nicht bekannt. Dass es
zum Glück auch anders geht, beweist Platten-Pedro. Nach eigener Aussage
bestimmt er die Preise auch „nach Laune“ und vertraut ansonsten seiner
Erfahrung. Hier wird der Computer ausschließlich zum Solitärspielen
gestartet. Und tatsächlich, wer sich durch sein riesiges Sortiment wühlt,
kann durchaus Funde machen, die weit unterhalb des Internetpreises liegen.
Zudem gibt er ungefragt Rabatte. Es kann durchaus passieren, dass er sagt:
„Zehn steht drauf, aber das interessiert außer dir eh keinen, deshalb
zwei.“
Christoph Best hat das Internet inzwischen aus seinem Münchner
Plattenladen, der stadtbekannten Institution „Best Records“, verbannt. Im
Gespräch erläutert er: „Eine Zeit lang hab ich mich auch an den
Onlinepreisen orientiert. Schon aus Angst, etwas zu billig zu verkaufen.
Inzwischen hab ich gemerkt, dass mir der Spaß an meiner Arbeit abhanden
kommt. Für Kunden ist es interessanter, wenn sie wissen, dass sie auch mal
eine Platte unterhalb des vermeintlichen Marktwerts finden können. Das war
tatsächlich an den Besucherzahlen abzulesen. Dafür verzichte ich gerne auf
den ein oder anderen Euro.“
In diesem Sinne: Schalten Sie bitte Ihre Smartphones aus, wenn Sie eine
Plattenbörse besuchen!
4 Dec 2013
## AUTOREN
Alex Bechberger
## TAGS
Schallplatten
Vinyl
Musikindustrie
Internethandel
Vinyl
Musik
Musikmarkt
Jubiläum
## ARTIKEL ZUM THEMA
Chanson-Pop von Aksak Maboul: Eleganter Panther
Stau auf der Route Nationale 7: Die belgische Band Aksak Maboul umfährt ihn
mit ihrem „Ex-Futur Album“ und der Sängerin Véronique Vincent.
Pop von Roddy Frame: Postkarten vom Land
Simpel, sauber und gut: „Seven Dials“ ist ein musikalisch beeindruckendes
Lebenszeichen des schottischen Songwriters Roddy Frame.
Record Store Day in Deutschland: Wichtiger als Weihnachten
Am Samstag locken limitierte Auflagen Fans und Schnäppchenjäger in die
Plattenläden. Der Mainstream verdient prächtig mit.
Soulmusiker King Khan: Rock, Rotz und bisweilen Geigen
Schwere Jahre liegen hinter ihm: Nicht nur deshalb klingt der Soul des
indokanadischen Musikers King Khan auf „Idle No More“ so glaubwürdig.
Deutscher Musikmarkt wächst: Kassetten sterben, CDs leben
Nach Jahren des Rückgangs expandiert der Musikmarkt erstmals wieder.
Besonders Downloads und Streaming nehmen zu. Endgültig tot ist dagegen die
Kassette.
65 Jahre Langspielplatte: Der Ton und sein Träger
Die Geburt der Langspielplatte war eine Sensation. Ihre Wirkung auf die
Popkultur ist nicht zu unterschätzen. Sie zwingt zu sinnlicher
Kontemplation.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.