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# taz.de -- Wolfgang Neuss wäre 90 geworden: „… ab 5 Uhr 45 wird zurückge…
> Unruhestifter, Aussteiger, Meister-Kabarettist und Pointen aus dem
> Maschinengewehr: Erinnerungen an den großartigen Wolfgang Neuss.
Bild: Wolfgang Neuss 1952 in „Die Spur führt nach Berlin“.
Im Himmel war die Hölle los, als Dieter Hildebrandt am 20. November dort
einzog. Während es hienieden Nachrufe auf den „Großmeister des Kabaretts“
hagelte, brüllte es dort oben laut und ungehalten: „Na endlich, wird aber
auch Zeit!“ Dieter erkannte die Stimme sofort und fühlte sich gleich wieder
zu Hause, denn das war unverkennbar sein Freund, Kollege und Übermeister
des Kabaretts, den er fast 25 Jahre überlebt hatte: Wolfgang Neuss.
Jedes Mal, wenn in den 80er Jahren ein „Scheibenwischer“ produziert und
ausgestrahlt war, pilgerten die Beteiligten in die Neuss’sche Räucherhöhle
in der Lohmeyerstraße, um sich die Kritik ihres Übermeisters anzuhören. Da
hockten dann die Hildebrandts, Polts, Schneyders, Beltzs auf dem Boden,
denn Möbel gab es keine, und das „Ungeheuer von Loch Neuss“ (Hildebrandt)
entzündete im Schneidersitz einen seiner gewaltigen Joints und feuerte
maschinengewehrartig seine Kritikpointen ab.
Diese Sitzungen waren nicht selten witziger als die Sendung selbst und
jedes Mal hieß es danach: „Wolfgang, du musst in die nächste Sendung
kommen!“ – und er antwortete konsequent: „Auf keinen Fall, es sei denn ihr
dreht hier!“
Seit 1974 hatte er sich von der Bühne zurückgezogen, um seine Tabletten-
und Alkoholsucht mit Hanf zu kurieren („Ich rauche den Strick, an dem ich
hängen würde!“), und versuchte, auch seine Kollegen mit den Vorzügen dieser
Medizin vertraut zu machen. Doch Dieter Hildebrandt zückte nach diesen
Sitzungen stets einen Hunderter und sagte: „Wolfgang, rauch für uns mit.“
## Fortschritt aus Angst
Als Soldat im Lazarett hatte Neuss gemerkt, dass er Witze besser erzählen
konnte als andere. Zurück an der Ostfront schießt er sich 1943 den
Zeigefinger der linken Hand ab, um wieder dorthin zu kommen: „Die Angst
trieb mich zum Fortschritt. Selbstverstümmelung war und ist eine gute
Friedensbewegung!“ Mit bunten Abenden meldet sich Humorsoldat Neuss auch
1945 im Internierungslager zur Stelle und tingelt danach mit einem Geiger
und einem Leiterwagen über Land. Es folgen erste Auftritte auf Profibühnen
zusammen mit seinem Partner Wolfgang Müller.
Im Jahr 1951 tritt Neuss mit der Pauke vor 20.000 Berlinern in der
Waldbühne auf und erobert die Herzen der Frontstadt im Sturm. Er spielt
Theater unter Erwin Piscator, kleine und große Rollen in über 50
Spielfilmen, führt Regie beim Berliner Kabarett „Die Stachelschweine“ und
wird im Räuberduo mit Wolfgang Müller in „Das Wirtshaus im Spessart“ (195…
zum Liebling der Nation.
Bald eröffnet kein Schuhgeschäft mehr ohne die kesse Schnauze von Neuss,
der von der Strumpf-Firma Nur Die für mehrere Werbespots beauftragt wurde.
Nach Vorführung des ersten Spots aber schon, den Neuss nicht willens ist
abzuändern, klagt der Strumpfhersteller wegen Vertragsbruchs. Darin tritt
Neuss nämlich einen Fernseher ein und bekundet: „Das machen nur die
Strümpfe, NUR DIE, anders ist das Ding nicht kaputtzukriegen.“
Die Kulturkritik am Fernsehen hinderte ihn freilich nicht, seinen ersten
eigenen Film – „Wir Kellerkinder“ (1960) – von der ARD mitfinanzieren zu
lassen; die heute selbstverständliche Praxis führte zum Eklat: Die
genialste deutsche Komödie über den Faschismus musste bei den Berliner
Filmfestspielen außer Konkurrenz laufen. Um seinem nächsten Film Zuschauer
zu verschaffen, legte er sich nicht nur mit dem Fernsehen an, sondern wurde
gleich zum „Verräter der Nation“ – in einer Anzeige für „Genosse
Münchhausen“ (1962) verriet er den Mörder der Durbridge-Serie „Das
Halstuch“, des ersten „Blockbusters“ der jungen TV-Nation.
Morddrohungen waren die Folge, den Spaß wollte sich das
Wirtschaftswunderland von seinem Spaßmacher dann doch nicht verderben
lassen. Mit seinen Einmannshows im Domizil am Lützowplatz („Das jüngste
Gerücht“, „Neuss Testament“ und „Asyl im Domizil“) Mitte der 60er Ja…
mutiert die bis dahin familienkompatible Berliner Kodderschnauze zum
scharfzüngigsten Lautsprecher der APO, die komische Knallcharge zur
politischen Instanz, der Filmstar und Playboy zum Anmacher und
Unruhestifter. Und zum Aussteiger, als Neuss die Bühne mit der
Meditationsmatte tauschte und von Tabletten auf LSD umstieg.
## Dem Kampf entgegen
„Geistige Aufrüstung“ nannte Neuss das und setzte diese der Radikalisierung
der 68er Kulturrevolution, dem Abdriften in den bewaffneten Kampf entgegen
– das Morden und Brandschatzen hatte er hinter sich. „Das letzte Mal war’n
die späteren RAF-Leute bei mir nach der Baader-Befreiung und sagten:
’Wolfgang, du musst uns helfen, wir brauchen dein Auto.‘ Ich hab gebrüllt:
’Seid ihr wahnsinnig‘, und nicht mitgemacht – leider, wie man heute sagen
muss. Denn wäre ich Wahnsinniger damals eingestiegen, hätte das ganze
Abenteuer keine drei Tage gedauert.“
Ein Foto von Ulrike Meinhof und ihren Zwillingen hing dennoch bis zum
Schluss in seinem zu einer einzigen Pinwand ausgewachsenen Zimmer. Für
Neuss kam als Konsequenz der Radikalität der 60er Jahre nur das Abenteuer
der Selbstfindung infrage. Und als er wieder auftauchte aus der inneren
Versenkung, brach er sein Schweigen mit Worten, die den alten Kollegen
ziemlich irre vorkamen – uns aber, die wir gerade die taz gegründet hatten,
wie gerufen.
Im Jahr 1981 richteten wir ihm eine Kolumne ein und fortan sprach er mir
wöchentlich seine aberwitzigen „buddhadaistischen“ Monologe auf Band, in
denen Lokalklatsch und Globalstrategie, Privatclinch und Weltkrieg,
Kleinkunst und Großkultur, Tagesaktualität und Ewigkeit auf holografische
Art kollidierten. Er war immer noch der blitzschnelle Assoziationsartist
und Kalauerkönig („Die Nordsee ist umgekippt – hat mal jemand nen
Lappen?“), aber er schöpfte nicht mehr aus dem „Anti“, dem permanenten
Protest, sondern übte sich in der Zen-Politik der Umarmung, im „An die Wand
lieben“: „… ab 5 Uhr 45 wird zurückgelächelt.“
Neuss’ „geniale Zeilen“ zum Faschismus hat Klaus Theweleit, Chefanalytiker
deutscher Männerfantasien, später zitiert – neben Benn, Jünger, Pound,
Hamsun, Elvis, im „Buch der Könige“. Da gehört er hin, der Neuss, als
Schlachtergeselle zu den Dichterkönigen, als deutscher Trommler neben den
Rock-’n’-Roll-King: „Das, was wir Faschismus nennen, ist in Wirklichkeit
nur eine ganz bestimmte Form der Ekstase.“ Paradebeispiel für einen, der
nicht Faschist geworden ist – und nie vergaß, dass er einer hätte sein
können.
## Immer von unten
„Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen“, entbot er Richard
von Weizsäcker bei seinem legendären Talkshowauftritt 1983 zum Gruße – der
Spruch war ihm am Nachmittag auf einer Glückwunschkarte zum 60. Geburtstag
zugeflogen, von einem Fan aus dem Knast. Ihn gleich am Abend vor einem
Millionenpublikum als Appell an „Häuptling Silberlocke“ zu bringen, war
nicht nur typisch für die Neuss’sche Methode, es brachte auch das Phänomen
dieser deutschen Biografie auf den Punkt. Nicht den typischen Oberleutnant,
mit Oberwasser unter aller Regimen, sondern einen deutschen Schweijk und
Torpedokäfer: „Ich hab nie aufgehört, von unten anzufangen.“
Das musste er auch, denn nachdem er sich in der Talkshow für die
Drogenlegalisierung ausgesprochen hatte, erfolgten eine Hausdurchsuchung
und Verurteilung. Dass der Krebs („Das ist kein Raubtier, sondern ein
Haustier!“) ihn 1989 dahinraffte, war eindeutig zu früh – sechs Monate
später fiel die Mauer und die Wiedervereinigung hätte ihm als
gesamtdeutschen Komiker garantiert einen weiteren Frühling beschert.
Immerhin blieb es ihm erspart, der trostlosen Comedy-Inflation unserer Tage
ausgesetzt zu sein, für deren Akteure mehr denn je des Meisters Maxime
gelten sollte: „Heut mach ich mir kein Abendbrot, heut mach ich mir
Gedanken.“
Die kursiv gesetzten Passagen stammen aus dem 1985 im Heyne-Verlag
erschienenen Buch „Der gesunde Menschenverstand ist reines Gift.
Paukenschläge von Wolfgang Neuss“.
3 Dec 2013
## AUTOREN
Mathias Bröckers
## TAGS
Dieter Hildebrandt
Kabarett
Julia Timoschenko
Dieter Hildebrandt
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