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# taz.de -- Wolfgang Neuss-CD: Drei Reisen ins Leben
> Kabarettist, Drogenexperimentator und Reisespezialist: Wolfgang Neuss
> spirituelle Erfahrungen kann man sich jetzt auf einer neuen CD anhöhren.
Bild: Wolfgang Neuss: "Im Lazarett habe ich Witze erzählt - kam gut an."
Der Kabarettist und taz-Einflüsterer Wolfgang Neuss erzählte 1988 dem
Journalisten Thomas Hackenberg drei Reisegeschichten, die nun als CD
vorliegen.
Seine erste Reise trat Neuss als Kind 1929 mit seinem Vater an. Sie fuhren
mit dem Zug von Breslau ins Rheinland, um Verwandte zu besuchen. Der Vater
hatte als ehemaliger Offizier ein hochstaplerisches Leben geführt, war dann
aber immer mehr heruntergekommen - bis er zuletzt mit einer Vorstadtkneipe
pleiteging. Er betrank sich, tyrannisierte seine Familie und verprügelte
seinen Sohn. Im Rheinland wurde er jedoch plötzlich wieder "nüchtern und
vornehm", wie Neuss sich ausdrückte, der auf dieser Reise ein erstes
spirituelles Erlebnis hatte: Sein Vater musste in der Familie, in die er
eingeheiratet hatte, den Geist des im Ersten Weltkrieg gefallenen Bruders
seiner Mutter verkörpern- das wurde dem Sohn plötzlich klar.
Seine zweite Reisegeschichte, die er Thomas Hackenberg erzählte, ereignete
sich in den Siebzigerjahren. Da wurde er von dem SDS-Aktivisten Gaston
Salvatore, der ein Buch über ihn geschrieben hatte, überredet, nach Chile
zu fahren. Neuss, seine Freundin Gisela und ihr Hund Tallo nahmen ein
Schiff, das von Genua abfuhr, während Salvatore nach Santiago flog. Die
lateinamerikanischen Hafenstädte begeisterten Neuss sehr, aber in Chile, wo
er Urlaub machen wollte, geriet er sogleich in denselben
"Polittouristen-Schickimicki"-Rummel wie in Berlin - und gab ein Interview
nach dem anderen: "Ich brauchte sofort wieder Schlaftabletten." Und dann
wurden Gisela und er auch noch als mutmaßliche Sympathisanten der
revolutionären Organisation MIR verhaftet. Nach einigen Tagen schob man sie
jedoch nach Deutschland ab.
Neuss geht - als "Reisespezialist" - davon aus, dass man nie einfach
irgendwohin reist, um sich touristisch dies und das anzukucken, denn immer
ist da "ein alter Geist", der über einen kommt. Als spirituelles Erlebnis
seiner ersten Lateinamerikareise blieb ihm im Wesentlichen nur ein Besuch
des Denkmals von Simón Bolivar in Caracas, vor dem er, obwohl Protestant,
automatisch-katholisch die Hände faltete.
Seine dritte Reisegeschichte spielt während des Krieges in Russland. Die
Front ist "bei 44 Grad unter null" erstarrt. Neuss, als der mit 17 Jüngste
der Kompanie, muss an Heiligabend Wache schieben. Am nächsten Morgen
desertiert er. Dazu leiht er sich Zivilklamotten und ein Pferd, mit dem er
bis ins dreihundert Kilometer entfernte Smolensk kommt. Seine Kompanie wird
inzwischen überrannt und vernichtet. Was Jaroslav Haseks "Schwejk" im
Ersten Weltkrieg ist Wolfgang Neuss im Zweiten, sogar fast an derselben
Stelle, an der mittleren Wolga.
Die Rote Armee greift die von den Deutschen besetzte Stadt an, Neuss
überlebt als einer von wenigen. Als der Gefechtslärm nachlässt und er den
Kopf aus dem Schützengraben hebt, sieht er einen Russen vor sich - keinen
toten, sondern einen lebenden, der ihn jedoch nicht wahrnimmt. Neuss
beschließt, sich schnellstens ins Lazarett zu begeben: "Dazu habe ich mir
mit meinem Karabiner den Finger weggeschossen. Und bin dadurch Kabarettist
geworden. Im Lazarett habe ich Witze erzählt - kam gut an." Das gilt auch
für seine ersten öffentlichen Auftritte dort.
Damit hat er nach einer Zeit als Landwirt, Fleischer und Soldat seine
Lebensaufgabe gefunden. Es brauchte jedoch noch ein spirituelles Erlebnis.
Dieses bestand darin, dass Neuss, als er 1929 aus dem Rheinland
zurückgekehrt war, zu Hause in Breslau einen Zeitungsartikel gegen den
Krieg vorfand, den sein Onkel Willi, der zweite Bruder seiner Mutter, der
nach Amerika ausgewandert und Sheriff in Winnipeg geworden war,
veröffentlicht hatte. Ein kleines pazifistisches Feuilleton und schlechtes
Schwejk-Plagiat: Zwei feindliche Soldaten liegen sich an der Front
gegenüber - und erkennen sich jäh als Brüder. Neuss war, als er das las,
kein Pazifist, aber nun, da ihm soeben bei Smolensk nahezu dasselbe
passiert war, wollte er was daraus machen. Der Drogenexperimentator, der er
später wurde, spricht von einer "Opiumgeschichte: Zwei Soldaten stehen sich
gegenüber und sehen gleich aus. Ohne mir den Finger abzuschießen, wäre ich
aus dieser Opiumgeschichte nicht rausgekommen!" Das musste also sein. So
etwas Ähnliches hatte er auch gleich nach seiner Heimkehr aus dem Krieg
schon seiner Mutter gesagt, nachdem die gemeint hatte: "Das wäre doch nicht
nötig gewesen." Später erklärte Neuss dazu: "Ich bin vielleicht für die
Mehrheit der Leser verkommen, aber man darf nicht vergessen: Ich bin eine
Hoffnung für jeden idiotischen Krüppel. Das Wichtigste ist meine linke
Hand. Die ist immer bei mir und erinnert mich brutal an den Moment 1943,
als Albert Hofmann in der Schweiz seinen ersten LSD-Trip inhalierte. Da
schoß ich mir in meine linke Hand. Symbol für Kunst statt Krieg.
Selbstverstümmelung empfehle ich allen, die ohne Schießen nicht leben
können."
Zur Fingerlosigkeit kam bei Neuss später noch die Zahnlosigkeit, die ihm
zuletzt - er starb 1989 - das Aussehen einer indianischen Hexe verlieh.
Einen Charlottenburger Zahnarzt, der anbot, ihm kostenlos ein Gebiss zu
verpassen, beschied er: "Lass gut sein. Mit meinem einen Zahn bin ich immer
noch bissiger als alle anderen." Auf der CD mit den drei Reisegeschichten
erzählt er jedoch eher gut gelaunt und aufgeräumt, wie es dazu kam.
29 Nov 2007
## AUTOREN
Helmut Höge
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