# taz.de -- Debatte Weihnachtskasino: Der Papst und das Kapital | |
> Der neue Papst sagt, unsere Wirtschaft tötet. Er geißelt die Armut und | |
> das Geld. Doch Systemkritik übt er nicht. Ist er trotzdem ein Marxist? | |
Bild: Sieht so ein Marxist aus? | |
Ist der neue Papst ein Marxist? Pünktlich zum ersten Advent hat Franziskus | |
ein apostolisches Schreiben verfasst, das den Titel „Die Freude des | |
Evangeliums“ trägt. Der Text ist 180 Seiten lang, und einige Absätze | |
wirken, als wolle der Papst den Kapitalismus abschaffen. | |
Die weltweite Aufregung war groß genug, dass der Papst der italienischen | |
Zeitung La Stampa eigens ein Interview gab, um zu versichern, dass er kein | |
Marxist sei. In Deutschland sprang ihm Reinhard Kardinal Marx bei, der in | |
der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erklärte, warum sein | |
Namensvetter und Franziskus nicht zu verwechseln seien. | |
Um es kurz zu machen: Es stimmt. Franziskus ist kein Marxist. Dennoch ist | |
es kein dummer Zufall, dass dieses Missverständnis aufkam. An einigen | |
Stellen drückt sich der Papst so apodiktisch aus, dass es nach | |
grundsätzlicher Systemkritik klingt. | |
Besondere Furore machte der Satz: „Diese Wirtschaft tötet.“ Denn diese | |
Aussage wurde noch gesteigert, indem ihr ein sehr anschauliches Beispiel | |
folgte: „Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter | |
Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine | |
Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht.“ | |
## Fetischismus des Geldes | |
Ähnlich kompromisslos klingt der Papst, wenn er die „neue Vergötterung des | |
Geldes“ geißelt: „Wir haben neue Götzen geschaffen. Die Anbetung des | |
antiken goldenen Kalbes hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im | |
Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht | |
und ohne ein wirklich menschliches Ziel.“ | |
Dagegen setzt der Papst die Losung des christlichen Asketen Johannes | |
Chrysostomus, der im 4. Jahrhundert Erzbischof von Konstantinopel war: „Die | |
eigenen Güter nicht mit den Armen zu teilen bedeutet, diese zu bestehlen | |
und ihnen das Leben zu entziehen. Die Güter, die wir besitzen, gehören | |
nicht uns, sondern ihnen.“ | |
Der Papst hat recht, die Armut ist ein Skandal. Aber was folgt daraus? Dies | |
erfährt man bei Franziskus nicht. So stark seine Worte sind – so schwach | |
ist die Analyse. Stattdessen zieht sich der Papst auf die Ethik der Bibel | |
und der Kirchenväter zurück. Er will die Welt „evangelisieren“, wie | |
Kardinal Marx das Projekt umschreibt. „Es geht ihm um die Verkündigung der | |
Frohen Botschaft von Jesus Christus, die Auswirkungen haben muss auf das | |
ganze Leben der Menschen.“ | |
Dies ist ein ehrenwertes Ziel, wird aber folgenlos bleiben, wie die | |
Geschichte zeigt. Seit 2.000 Jahren werden die Lehren Jesu verkündet – aber | |
1.800 Jahre lang änderte sich nichts an der globalen Armut. Die meisten | |
Menschen schufteten auf dem Land, starben früh und waren den Adligen hörig. | |
## Auch Könige hatten Typhus | |
Die wenigen Reichen lebten zwar gut, aber keineswegs so gut wie der normale | |
Westeuropäer heute. Auch Könige verendeten an Typhus und hatten weder | |
Heizung noch hygienische Badezimmer. | |
Es war nicht die Kirche, die viele Menschen aus der Armut herausgeführt hat | |
– sondern die Industrialisierung, die ab 1760 in England einsetzte. Der | |
Wohlstand ist also genau jenem Kapitalismus zu verdanken, der nun von | |
Franziskus angeprangert wird. Dieser Widerspruch ist dem Papst offenbar | |
bewusst, denn eine seiner zentralen Sentenzen ist bemerkenswert | |
verschwurbelt. | |
Erster Satz: „Wir dürfen nicht mehr auf die blinden Kräfte und die | |
unsichtbare Hand des Marktes vertrauen.“ Dies klingt noch vertraut | |
systemkritisch. | |
Zweiter Satz: „Das Wachstum in Gerechtigkeit erfordert etwas, das mehr ist | |
als Wirtschaftswachstum, auch wenn es dieses voraussetzt.“ Aha, | |
Kapitalismus muss also doch sein, damit es überhaupt etwas zu verteilen | |
gibt. | |
## Bloß nicht konkret werden | |
Dritter Satz: „Es verlangt Entscheidungen, Programme, Mechanismen und | |
Prozesse, die ganz spezifisch ausgerichtet sind auf eine bessere Verteilung | |
der Einkünfte.“ Diese Forderung ist derart vage, dass Kanzlerin Merkel | |
mühelos mithalten könnte. „Spezifische Entscheidungen“ klingen immer gut … | |
aber was soll das sein? Hier spricht offenbar der Kirchendiplomat, der | |
niemanden vergraulen will. | |
Es ist verständlich, dass der Papst als oberster Hirte einer buntscheckigen | |
Globalgemeinde keine politischen Aussagen treffen will. Reiche wie Arme, | |
Westeuropäer wie Lateinamerikaner, Konservative wie Progressive sollen sich | |
vertreten fühlen. Also wählt Franziskus Worte, die zwar radikal klingen, | |
aber allseits „anschlussfähig“ sind, wie das moderne PR-Wort für diese | |
Strategie heißt. | |
Doch diese Strategie könnte fatale Folgen haben. Der Papst selbst hofft | |
zwar, dass er die Welt wachrüttelt, indem er drastische Worte wählt. Doch | |
tatsächlich dürfte er jene Ungerechtigkeit zementieren, die er bekämpfen | |
will. | |
## Systemwechsel aussichtslos | |
Das erste Problem ist, dass seine scheinbare Fundamentalkritik den Eindruck | |
hinterlässt, man müsse das jetzige System komplett abschaffen, um die Armut | |
zu lindern. Doch ein Systemwechsel ist aussichtslos, schon weil radikale | |
Veränderungen bei den allermeisten Bürgern Angst auslösen. Zudem wird | |
verdeckt, dass kleine Reformen reichen würden, um die Ungleichheit zu | |
reduzieren. | |
Aus der Geschichte des Kapitalismus weiß man, wie wirkungsvoll es ist, | |
Mindestlöhne einzuführen und die Reichen höher zu besteuern. Aber ein so | |
konkretes Wort wie „Steuern“ kommt bei Franziskus nirgends vor. | |
Dies führt zum zweiten Problem: Die Sprache des Papstes ist zwar anklagend, | |
aber wolkig. Es bleibt unklar, was sich eigentlich ändern soll. So ist | |
nicht deutlich, ob der Papst den gesamten Kapitalismus kritisiert oder nur | |
den Finanzkapitalismus, ob er beides für das Gleiche hält und wie er | |
Marktwirtschaft und Kapitalismus unterscheidet. Der Papst interessiert sich | |
zwar für Armut, aber offenbar nicht für wirtschaftliche Zusammenhänge. | |
Das war bei Marx anders. Nicht alle seine ökonomischen Erkenntnisse waren | |
richtig, aber er wollte verstehen, wie der Kapitalismus funktioniert. In | |
diesem Sinne ist es bedauerlich, dass der Papst kein Marxist ist. Mehr | |
Neugier hätte nicht geschadet. | |
25 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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