# taz.de -- Wenn Diät und Fitness versagen: Pfunde verlieren per Skalpell | |
> Für einige Mediziner ist die Übergewichtschirurgie die ultimative Abhilfe | |
> gegen Fettsucht und Diabetes. Andere mahnen Langzeitstudien an. | |
Bild: Es ist nicht nur das Gewicht, das zu Krankheiten führt. | |
MÜNCHEN taz | „Faszinierend“, „hoch spannend“ und „bahnbrechend“ �… | |
werden die Ergebnisse der Übergewichtschirurgie beschrieben. Und das sind | |
sie durchaus: Menschen, die sich unters Messer legen, um ihre Pfunde | |
loszuwerden, haben je nach Operationsverfahren einen Gewichtsverlust von 48 | |
bis 70 Prozent nach rund zwei Jahren. | |
In dieser Zeit verschwindet bei zwei von drei krankhaft dicken Diabetikern | |
mithilfe des Chirurgen der Zucker. Zudem bessern sich Blutdruck- und | |
Blutfettwerte, Gelenkschmerzen verschwinden, Atembeschwerden werden | |
gelindert, die Lebensqualität steigt und insgesamt leben diese Patienten | |
länger als unbehandelte Leidensgenossen. All das kann man in der Leitlinie | |
[1][„Chirurgie der Adipositas“ der deutschen Gesellschaft für Allgemein- | |
und Viszeralchirurgie] aus dem Jahr 2010 lesen. | |
Gemäß dieser Schrift wird Menschen, die einen Body-Mass-Index (BMI) von | |
über 40 haben, aber auch Übergewichtigen mit einem BMI von über 35 und | |
weiteren Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes eine OP anempfohlen – | |
vorausgesetzt, Diät und Fitnessprogramme haben versagt. Und das ist | |
praktisch bei allen Menschen der Fall, die einmal 150 oder 200 Kilo auf die | |
Waage bringen. | |
Bei den OP-Verfahren wird unterschiedlich stark in die Physiologie des | |
Körpers eingegriffen: Magenband und Schlauchmagen schmälern das | |
Fassungsvermögen des Magens, sind quasi Appetitzügler. Bei der häufig | |
angewendeten Bypass-Operation wird zusätzlich zur Verkleinerung des Magens | |
der Nahrungsbrei an einem Großteil des Dünndarms vorbeigeleitet, was die | |
Nährstoffaufnahme reduziert. Auch bei der „Biliopankreatischen Diversion | |
mit Duodenal-Switch“ (BPD) wird ein Bypass gelegt, die Verdauungssäfte | |
werden jedoch gesondert weitergeleitet – die Resorption der Nährstoffe ist | |
also noch geringer. | |
## Die meisten sind Frauen | |
Viele Mediziner handeln die Chirurgie mittlerweile als „Heilmittel gegen | |
Diabetes“ und „einzig wirksame Methode zur dauerhaften Gewichtsreduktion“. | |
Und wegen dieser Erfolgsstory werden immer mehr megaadipöse Menschen | |
operiert. Gemäß dem Statistischen Bundesamt wurden die OPs im Jahr 2006 in | |
Deutschland von knapp 1.800 Menschen gewünscht und von den Krankenkassen | |
genehmigt, im Jahr 2011 waren es schon über 6.000 Patienten. | |
Dabei sind 8 von 10 operierten Frauen, immer häufiger finden sich auch | |
Kinder. Für 2012 melden die Krankenkassen abermals ein Rekordhoch. Und die | |
Zahlen werden weiter steigen: Die Krankenkassen geben noch sehr zaghaft ihr | |
Plazet, in den Chirurgiezentren werden darum derzeit auf Kosten der Kassen | |
fast nur Menschen mit einem BMI von über 50 operiert. | |
Doch mit der Euphorie kommen auch Zweifel auf. „Von einer Diabetesheilung | |
durch operative Eingriffe kann nicht die Rede sein“, meint etwa [2][Dirk | |
Müller-Wieland,] Stoffwechselexperte an der Asklepios-Klinik St. Georg in | |
Hamburg. Nach 15 Jahren seien es nur noch 10 Prozent der Patienten, die | |
wirklich von der OP profitiert hätten. Und das seien auch eher die | |
Gesünderen unter den Adipösen. Auch der Einfluss auf das Erkrankungsrisiko | |
für Herz und Kreislauf ist auf lange Sicht nicht belegt. Zwar sinkt das | |
Risiko für Herzinfarkte, nicht aber für Schlaganfälle. | |
## Langzeitstudie war mangelhaft | |
Zudem gibt es Kritik an der Langzeitstudie, aus der man einen Großteil der | |
Erkenntnisse schöpft. Die Swedish Obesity Study konnte damals wegen | |
ethischer Vorbehalte nicht „randomisiert“ werden. „So kann nicht | |
ausgeschlossen werden, dass operierte Patienten von vornherein ein | |
niedrigeres Sterblichkeitsrisiko hatten als die Nichtoperierten“, meint | |
Achim Peters von der Universität Lübeck. | |
Auf der anderen Seite gibt es auch erhebliche Nebenwirkungen der | |
Radikaltherapie: Es wurde beobachtet, dass Operierte häufiger zu Alkohol | |
und Drogen greifen sowie die Suizid- und Unfallneigung steigt. | |
Obendrein erhöht sich das Krebsrisiko. So ist laut einer aktuellen Studie | |
des Karolinska-Instituts in Stockholm das Darmkrebsrisiko zehn Jahre nach | |
der OP doppelt so hoch wie bei Nichtoperierten. „Es fehlen gute | |
Langzeitstudien zu den tatsächlichen Chancen und Risiken der | |
Adipositas-Chirurgie“, mahnt Achim Peters. | |
## Nachwirkungen der OP | |
Auch ist es mit der OP keineswegs getan. Magenbypass- oder BPD-Patienten | |
müssen ihr Leben lang Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen, einige | |
müssen täglich Proteinshakes konsumieren, die Geschmackswahrnehmung | |
verändert sich. | |
Zahlen dazu, wie viele Patienten an Mangelkrankheiten leiden oder ob sie | |
ihre Essstörungen überwinden, gibt es jedoch bislang kaum. | |
Letztlich besteht auch immer die Gefahr, dass es Komplikationen gibt wie | |
Embolien, Darmverschlüsse, Lecks an den Nähten oder Gallensteine. Bei | |
ehemaligen Diabetikern kommt es häufig zu Unterzuckerungen. | |
„Man muss in jedem Einzelfall die Chancen mit den Risiken der OP abwägen“, | |
erklärt T[3][atjana Schütz von der Universitätsmedizin Leipzig.] Die | |
Patienten haben schließlich oft jahrelange Diäten hinter sich. Dazu kommen | |
Gewissensbisse, Schamgefühle und Häme wegen eines Körpers, der nur noch als | |
Last empfunden wird und mit dem an Fitnessprogramme nicht mehr zu denken | |
ist. | |
## Mäuse und Diabetes | |
Derweil erforschen Diabetologen weltweit schon im Mausmodell, warum durch | |
die operativen Veränderungen im Magen-Darm-Trakt der Diabetes so schnell | |
zurückgeht. Denn die Glukose- und Insulinwerte im Blut verbessern sich oft | |
schon wenige Tag nach der OP, wenn der Patient noch kaum abgenommen hat. | |
Geltrude Mingrone, Diabetologin an der katholischen Universität in Rom, hat | |
zum Beispiel kürzlich herausgefunden, dass Hormone aus einem Teil des | |
Dünndarms, dem sogenannten Jejunum, die Skelettmuskeln insulinresistent | |
machen und bestimmte Gene des Zuckerstoffwechsels beeinflussen. Bei einem | |
Bypass wird eine Region des Jejunums jedoch umgangen und so womöglich das | |
Chaos im Zuckerstoffwechsel vereitelt. | |
Zudem wird diskutiert, ob auch durch die unvollständige Verdauung von | |
Fetten der Diabetes zurückgedrängt wird, schließlich kurbelt stark | |
fetthaltige Nahrung die Produktion von Insulin an. Auch die veränderte | |
Darmflora könnte den Zuckerstoffwechsel beeinflussen. Die Forscher hoffen, | |
mit dem Wissen neue Antidiabetika entwickeln zu können. | |
27 Dec 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.dgav.de/no_cache/arbeitsgemeinschaften/caadip/leitlinie-chirurgi… | |
[2] http://www.asklepios.com/Forschungsprofile_Expertendetails.Asklepios?u_id=2… | |
[3] http://ifb-adipositas.de/dr-rer-nat-tatjana-sch%C3%BCtz | |
## AUTOREN | |
Kathrin Burger | |
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